Heft262 – 01/2024

Demokratische Politik ist zivilisierter Kampf. Ein Essay

#meinung #debatte #spw

Foto: © Michael Marinus

Folke große Deters ist Mitglied der spw-Redaktion, Vorsitzender der ASJ NRW und lebt in Bornheim-Hersel.

Folke große Deters

Der Ausgang der Bundestagswahl lässt die politische Linke einmal mehr empört zurück. Die „Populisten“ unterschiedlicher Couleur haben ihre Ergebnisse deutlich verbessern können – und die rechtspopulistische AfD liegt sogar vor der SPD! Nun kommt der Begriff „Populismus“ ja vom lateinischen Begriff „Populus“ (=Volk); und das dürfte bei einer „Herrschaft des Volkes“ (=Demokratie) eigentlich nicht die schlechteste Adresse sein. Den „Populisten“ wird aber vorgeworfen, die Gesellschaft zu spalten, komplexe Sachverhalte zu vereinfachen, an Emotionen statt an die Vernunft zu appellieren und für sich in Anspruch zu nehmen, für die Mehrheit zu sprechen, obwohl die Mehrheit nach wie vor nicht-populistische Parteien wählt. Als Gründe für das Aufkommen des Populismus werden die Echokammern oder die Algorithmen in den sozialen Netzwerken ausgemacht, die Emotionen vor Fakten bevorzugten und so Falschmeldungen transportierten. Maßnahmen gegen diese Falschmeldungen oder mehr politische Aufklärung werden oftmals als probate Gegenmaßnahmen genannt.

Ein unpolitisches Bild des Politischen

Die Art und Weise, wie wir unsere Gegner beschreiben, sagt mindestens so viel über uns aus wie über unsere Gegner. Deshalb wird dieser Essay auch nicht von den populistischen Parteien handeln, sondern er handelt von uns – präziser von dem vorherrschenden Begriff des „Politischen“ innerhalb der politischen Linken.

Aus der Kritik an den „Populisten“ spricht ein Verständnis von Politik, das die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe – im Anschluss an Überlegungen von Carl Schmitt¹ – aus prinzipiellen Gründen verwirft.² Die (links) liberale Sicht auf Politik habe das Problem, dass sie das spezifisch „Politische“ nicht begreifen könne. Das „Politische“ sei gekennzeichnet durch die ständige Gegenwart von Gegensätzen (Antagonismen), die prinzipiell unvermeidbar seien. Der Rationalismus und Individualismus in der (links)liberalen Weltsicht verhindere, dass diese prinzipielle Konflikthaftigkeit angemessen erfasst werden könne. Das „Politische“ sei gekennzeichnet von kollektiven Identitäten im Sinne einer Wir/Sie-Beziehung und von Wertungen, Überzeugungen oder Affekten, die sich prinzipiell nicht in einem rationalen Konsens auflösen ließen.³

Das (links)liberale Bild des „Politischen“ zeichnet sich dagegen dadurch aus, dass es im Kern unpolitisch ist. Ein hohes Ansehen genießen die vermeintlich „unpolitischen“ Institutionen; das Bundesverfassungsgericht, Rechnungshöfe, die Zentralbank und „die Wissenschaft.“ Beim 75. Jubiläum des Grundgesetzes feierten viele Festartikel einen vermeintlichen Konsens über „unsere Werte“ und die Abschirmung dieser Werte vor einem potenziell gefährlichen politischen Prozess durch Grundrechte und das Bundesverfassungsgericht. Alternativ wäre denkbar gewesen, den politischen Prozess zu feiern, der im Rahmen des Grundgesetzes ermöglicht wurde und im Rückblick alles in allem als gelungen bezeichnet werden kann.⁴

Folgerichtig: Die schleichende Entmachtung von Parlamenten als demokratisch unmittelbar legitimierten Volksvertretungen wird auch von der politischen Linken – wenn überhaupt – nur pflichtschuldig registriert.⁵ Nicht die Mehrheit, sondern die „Werte“ der Verfassung, europäische Binnenmarktregeln oder fachliche und wissenschaftliche Richtigkeit geben den legitimen Rahmen für politisches Handeln vor. Das rechtlich, moralisch oder wissenschaftlich Gebotene ist zu tun – eine Sortierung der politischen Landschaft nach rechts und links wird nur noch sehr zögerlich vorgenommen. Der Politikwissenschaftler Philip Manow hat in einer sehr lesenswerten Studie aufgezeigt, dass die so verstandene „liberale Demokratie“ mit der starken Eingrenzung ihrer elektoralen Offenheit erst ab den 1970er Jahren entstand.⁶ Die hiermit einhergehende Verrechtlichung bedeutet letztlich Entpolitisierung, weil übergeordnete Rechte, Werte oder die wissenschaftliche Wahrheit nicht mehr politisch entscheidbar sind.⁷ Doch das „Politische“ lässt sich – folgt man Mouffe – nicht aus der Welt schaffen. Politische Gegnerschaft wird dann aber nicht mehr in politischen Kategorien wie „links“ oder „rechts“, sondern in moralischen Kategorien – „anständige Demokraten“ gegen „Populisten“ – ausgetragen. Dadurch werden die Antagonismen paradoxerweise intensiver und verbitterter; aus politischen Gegnerinnen und Gegnern werden Feinde.

Vor diesem Hintergrund erweist sich „Populismus“ als ein Symptom einer Krise von Volkssouveränität. Seit Abbé Sieyes wird zwischen der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes („Pouvoir Constituant“) und den verfassten Gewalten („Pouvoirs Constitués“) unterschieden. Die Volkssouveränität vermittelt der politischen Herrschaft Legitimität, aber „das Volk“ ist beim Regieren nur einmal in vier Jahren als Wahlvolk präsent. Das ist unvermeidbar, weil der Volkswille eben nicht naturwüchsig vorhanden ist, sondern durch ein Verfahren festgestellt werden muss. Entfernt sich das staatliche Handeln zu weit von den Präferenzen und Überzeugungen einer hinreichend großen Zahl von Bürgerinnen und Bürgern, so stoßen Wortmeldungen auf Zustimmung, die im Namen der Volkssouveränität und gegen die „Eliten“ die Forderung erheben, die wahren Wünsche des Volkes zu verwirklichen.⁸ Verstärkt wird diese Resonanz noch, wenn populäre Positionen moralisch delegitimiert werden; zum Beispiel, indem etablierte Parteien sie als „populistisch“ anprangern. Bei nüchterner Betrachtung ist aus demokratietheoretischer Perspektive gegen solche populistischen Formen nichts zu sagen. Auch linke Bewegungen haben historisch kritisiert, dass bestimmte politische Entscheidungen im Interesse von wenigen „Eliten“ (der „herrschenden Klasse“) und nicht im Interesse der Mehrheit getroffen wurden – und damit um Zustimmung für linke Politik geworben.

Populismus-Kritik als Auflösung einer kognitiven Dissonanz

Was sagt nun die Populismus-Kritik der Linken über ihren eigenen Begriff des „Politischen“?

Meine These ist, dass die Kategorie des Populismus nicht nur für einen politischen Kampfbegriff gebraucht wird. Sie dient auch dazu, eine kognitive Dissonanz aufzulösen. Sie macht möglich, weiter an Volkssouveränität und Demokratie zu glauben, auch wenn große Teile oder sogar die Mehrheit des Volkes „falsche“ Positionen einnehmen oder „falsch“ wählen. Wenn das Volk sich irrt, muss das an Defiziten im Diskurs liegen, oder es ist schlicht Manipulation im Spiel. Deshalb sind Klagen über eine angebliche Verrohung der politischen Debatte durch „Hass und Hetze“ von „Populisten“ sowie deren Begünstigung durch Social Media so populär.⁹ Alle diese Beobachtungen haben sicher einen wahren Kern. Das Problem an dieser Sichtweise scheinen mir aber vor allem die überzogenen Erwartungen an die Qualität des demokratischen Prozesses zu sein, die für die wirkmächtigen deliberativen Demokratietheorien im Gefolge von Jürgen Habermas kennzeichnend sind. Natürlich haben demokratische Verfahren die Tendenz, durch die Allgemeinheit der Rechtsform, freie und gleiche Wahlen sowie Meinungs- und Pressefreiheit eine Vielzahl von Perspektiven in den Entscheidungsprozess einzuspeisen. In diesem Sinne darf man hoffen, dass die demokratische Entscheidung nicht nur „Wille“, sondern auch „Ratio“ enthält. Dennoch bringen demokratische Verfahren nicht notwendig das Vernünftige oder das Richtige hervor. Ergebnisse kollektiver Selbstbestimmung können so fehlsam sein wie die freie Willensbetätigung von Individuen.

Die Grenzen des “Politischen”

Warum kämpfen wir für die Demokratie, wenn sie keine Gewähr für rationale Ergebnisse bietet?

Wir sind Demokratinnen und Demokraten, weil wir davon überzeugt sind, dass alle Menschen frei und gleich geboren sind. Da die eigene Freiheit notwendig ein Eingriff in die Freiheit anderer ist, müssen wir uns gemeinsam über die Zuteilung von Freiheitssphären einigen. In den Worten Immanuel Kants: „Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen anderen verfügt, immer möglich, dass er ihm dadurch unrecht tue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt. […]¹⁰ Alle wahre Republik aber ist und kann nichts anders sein, als ein repräsentatives System des Volks, um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, vermittelst ihrer Abgeordneten (Deputierten) ihre Rechte zu besorgen.¹¹“ Hier ist klar, dass es um das Recht auf eine gemeinsame Entscheidung geht. Die „Unterstellung rationaler Akzeptabilität“¹² des Inhalts demokratischer Entscheidungen erscheint dagegen zu weitgehend, auch wenn die Form des demokratischen Prozesses vernünftig ist. Mit Kant markieren wir hier aber gleichzeitig die Grenze zur antagonistischen Theorie von Chantal Mouffe. Sie hält es zwar für legitim, wenn eine demokratische Gesellschaft diejenigen ausschließt, die Grundprinzipien von Demokratie und Rechtsstaat in Frage stellen. Sie will aber auch diese Praxis nicht moralisch, sondern politisch begründen. Unsere Demokratie sei eine Entscheidung für eine Lebensform, die letztlich kontingent ist.¹³

Nun ist die Kontingenz aller politischer Ordnungen genau wie das Wort Hegels von der Weltgeschichte als Gang Gottes durch die Welt zunächst einmal eine unbeweisbare Behauptung. Was aus einer Beobachterperspektive angesichts der Unterschiedlichkeit politischer Herrschaft plausibel erscheint, kann uns als politisch Handelnde jedenfalls normativ nicht überzeugen. Ein formales, gleiches Recht auf Freiheit scheint das Letzte zu sein, auf das sich Menschen ohne Rückgriff auf Gott oder höhere Wesen einigen könnten. Dass das Argument einer gedachten Einigung plausibel ist, beweist freilich, dass das Ergebnis dieser gedachten Einigung bereits vor der Einigung vorliegt, denn verbindlich einigen kann sich nur, wer sich bereits als freie und gleiche Person anerkannt hat.¹⁴ Und deshalb kann es politisch Handelnde auch nicht überzeugen, die Wahrung des Menschenrechts auf Freiheit und damit das Recht auf demokratische Selbstbestimmung als beliebige Entscheidung einer konkreten Gemeinschaft zu historisieren. Spätestens dann, wenn ein Mensch gegen seinen Willen eingesperrt wird, und sich die Frage stellt, mit welchem Recht dies geschieht, ist jede Rede von Pluralismus am Ende.¹⁵ Da uns Gott aber keine Steintafel mit Geboten schickt und selbst „objektive“ Wahrheiten subjektiv umstritten sind, müssen wir unsere Rechte darüber hinaus mit unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern aushandeln – und gemeinsam entscheiden. Das geschieht im demokratischen Verfahren. Und hier findet sich dann mal mehr und mal weniger Vernunft, aber ganz sicher das „Politische“ im Sinne von Chantal Mouffe.

Folgerungen: Von der Theorie in die politische Praxis

Welche Folgerungen ergeben sich aus dem Gesagten in der aktuellen Situation für politische handelnde Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten?

  1. Es ist normal, dass Menschen und Gruppen sehr unterschiedliche Sichtweisen haben. Wir tun gut daran, einen Menschen mit anderer Meinung nicht vorschnell als Populistin oder Schwurbler moralisch abzukanzeln. Viel spricht dafür, dass Gegensätze sich dadurch verschärfen und politische Gegnerinnen und Gegner zu Feinden werden.
  2. Wenn „Populismus“, also die Berufung auf die Volkssouveränität gegen die „Eliten“ oder die „Altparteien“(AfD-Sprech) etc. auf Resonanz stößt, dann heißt das nicht, dass man den dort artikulierten Meinungen in Form und Inhalt zustimmen muss. Eine solche Krise der Volkssouveränität gibt aber Anlass, genau hinzuschauen und genau zuzuhören. Viele gut situierte Aktive innerhalb der SPD sind nach wie vor völlig ratlos, woher die ganze Unzufriedenheit vormaliger Wählerinnen und Wähler der SPD herkommt. Demgegenüber hat Tom Krebs in der letzten Ausgabe der spw der These der „milden Krise“ widersprochen und aufgezeigt, dass die Inflation im Jahr 2022 mit Abstand den größten Reallohnverlust der Nachkriegsgeschichte erzeugt hat. Die Energiekrise sei die größte Krise der Nachkriegsgeschichte gewesen, vergleichbar nur mit der Erfahrung der ostdeutschen Bundesländer gleich nach der Wiedervereinigung.¹⁶ Was für die Gutverdienerin lästig ist, das kann für den Geringverdiener schnell zur existenziellen Bedrohung werden. Es kann auch die Bereitschaft sinken lassen, mit geflüchteten Menschen solidarisch zu sein. Wenn man dies anders sieht, so sollte doch die Bereitschaft da sein, den Unzufriedenen zuzuhören, ihre Nöte zu sehen und glaubhaft für Abhilfe einzutreten.
  3. Wenn es richtig ist, dass Antagonismen und kollektive Identitäten verbunden mit den dazu gehörenden Emotionen das Wesen des Politischen sind, dann muss auch die Sozialdemokratie Angebote für solche kollektiven Identitäten machen. Aktuell sind wir noch nicht einmal in der Lage, diejenigen sprachlich zu benennen, deren Lage wir verbessern wollen. Arbeiterbewegung sind wir nicht mehr; für meine Großmutter war die SPD die Partei der „kleinen Leute.“ Aber wer ist schon gerne klein? Den Begriff der „normalen Leute“ hat uns die AfD weggenommen; deshalb spricht der österreichische Publizist Robert Misik von den „einfachen Leuten“¹⁷ und die SPÖ etwas zirkelschlüssig von „unseren Leuten.“ In der deutschen Sozialdemokratie liest man gelegentlich von „berufstätigen Familien“, was zumindest begrifflich alle Alleinstehenden ohne Familie ausschließt. Nun kehrt die alte Arbeiterbewegung nicht wieder – und ihre relative Abgeschlossenheit war auch ein Problem, neue Wählerinnen und Wähler zu erschließen. Mir scheint aber bedeutsam zu sein, dass die Sozialdemokratie sich zwar für eine bestimmte Klientel eingesetzt hat, aber dabei eine mächtige Geschichte erzählen konnte. Sie setzte sich für die Arbeiterschaft nicht im Sinne einer egoistischen Interessenvertretung ein, sondern weil sie mit (!) ihr gemeinsam den gerechten Anteil am Kuchen erkämpfen wollte. Dies erzeugte einen Wir/ Sie-Gegensatz, ohne einen universellen Anspruch aufzugeben. Ist es vielleicht immer noch der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit, der lebensweltlich wieder neu plausibilisiert werden muss? Dann könnten alle Menschen, die ihren Lebensunterhalt im Wesentlichen über Einkünfte aus Arbeit und nicht aus Kapital bestreiten, die gesuchte Zielgruppe sein. Auffällig ist jedenfalls, dass die „Inhalte“ der SPD im letzten Wahlkampf durchaus auch auf „berufstätige Familien“ oder „einfache Leute“ zielten. Olaf Scholz hat aber während der Kampagne tunlich all das vermieden, was er vermutlich für überkommene Klassenkampfrhetorik gehalten hätte. Stattdessen beschränkte er sich darauf, sachlich und rechnerisch richtige Aussagen zu treffen. Damit gewann er zwar alle „Fakten-Checks“ nach den jeweiligen Wahlsendungen, die Herzen und Stimmen „unserer Leute“ gewann er aber nicht. Nun ist ein präsidialer Stil noch ein Erfolgsrezept von Angela Merkel gewesen. Viel spricht aber dafür, dass Menschen in aufgewühlten Zeiten nach Wahrnehmbarkeit und Orientierung auch in Form von (neuen) kollektiven Identitäten verlangen.
  4. Wenn dieser Befund richtig ist, dann wird es als Alleinstellungsmerkmal einer Partei nicht ausreichen, das Regierungshandwerk gut zu beherrschen. Es braucht ein klares inhaltliches Profil. Dabei geht es nicht nur um umfangreiche Programme und auch nicht alleine um eine mächtige und identitätsstiftende Geschichte. Wählerinnen und Wähler wollen wahrscheinlich auch sehen, dass „ihre“ Partei wirklich bereit ist, für „ihre Leute“ zu kämpfen. Nun ist es ein Fortschritt, dass die Sozialdemokratie anders als im Kaiserreich nicht mehr am Rande von Staat und Gesellschaft steht. Wir sind aber mental und habituell in Teilen so sehr Establishment geworden, dass wir nicht mehr glaubhaft für Benachteiligte eintreten können. Besonders manifest wird das in den Europa-Wahlkämpfen: Hier zieht die SPD nicht selten mit einer Mischung aus Image-Kampagne für die europäischen Institutionen und Volkshochschul-Kurs zur politischen Bildung über das Land, statt Missstände aufzugreifen und relevante Positionen zu politisieren.
  5. Wenn nicht nur „Inhalte“ zählen, sondern kollektive Identitäten benötigt werden, mit denen sich eine Wählerin oder ein Wähler identifizieren kann, dann darf das kulturelle Moment nicht unterschätzt werden. So richtig das Anliegen ist, bisher marginalisierte Gruppen sprachlich besser sichtbar zu machen, so wenig ist es angezeigt, eine elitäre Kunstsprache mit eigener Grammatik entwickeln, die wohl auch als Distinktionsmerkmal¹⁸ dient. Die sprachliche Sichtbarmachung berechtigter Anliegen darf uns nicht daran hindern, die Sprache unserer Wählerinnen und Wähler zu sprechen.
  6. Anerkennung: Damit verbunden sein sollte auch mehr Demut gegenüber Werthaltungen und vor allem der Lebensleistung von Menschen außerhalb des eigenen (akademisierten) Dunstkreises. Menschen identifizieren sich nicht mit einer Gruppe, von deren Mitgliedern sie nicht respektiert werden.
  7. Der Respekt-Wahlkampf von Olaf Scholz im Jahr 2021 könnte daher Ansätze bieten, die aktuell tobenden Kulturkämpfe zu umschiffen und diejenigen Themen zu politisieren, die der Sozialdemokratie wichtig sind; zum Beispiel gute Löhne, bezahlbare Mieten, ein handlungsfähiger demokratischer Staat, gerechte Steuern und eine funktionierende sozialstaatliche Absicherung vor den Wechselfällen des Lebens. Diese Themen und die dazu gehörigen Maßnahmen dürfen aber nicht nur in langen Spiegelstrich-Listen dargeboten werden, sondern sie müssen emotional aufgeladen werden. Dies könnte die Sozialdemokratie auch von den „Populisten“ (wieder) lernen.
  8. Nach der Bundestagswahl steigt die Zahl der Verlautbarungen, die „Mitte“ müsse jetzt gegen die „Rechts“ oder die „Populisten“ zusammenstehen. Daran ist richtig, dass eine neue Regierung die ökonomischen Probleme unseres Landes in den Griff bekommen muss, wenn Unzufriedenheit und Verunsicherung erfolgreich bekämpft werden sollen. Wenn aber Antagonismen und politische Konflikte anhand von Wir/ Sie-Unterscheidungen unvermeidlich sind, dann ist eine Spaltungslinie einzig zwischen „der Mitte“ und den „Populisten“ kontraproduktiv. Vielmehr sollte es hinreichend Identifikationsangebote innerhalb des demokratischen Spektrums geben, damit die Antagonismen in einem demokratischen Rahmen ausgetragen werden und man radikale Rechte im Idealfall rechts liegen lassen kann. Eine schwarz-rote Einheits-Formation ohne erkennbare Unterschiede würde aber weder konservativen noch sozialdemokratischen Wählerinnen und Wählern ein Angebot der Identifikation machen. Daher spricht viel dafür, im Falle einer Koalition¹⁹ immer deutlich zu machen, dass die Union ein politischer Gegner ist, mit dem wir aus staatspolitischer Verantwortung und nicht wegen inhaltlicher Übereinstimmung koalieren. Eine solche Abgrenzung dürfte angesichts des rechtskonservativen Profils von Friedrich Merz inhaltlich nicht schwerfallen. Dennoch ist ein harter Abgrenzungskurs innerhalb einer Koalition alles andere als einfach. Er stößt auf zwischenmenschliche Grenzen, denn eine erfolgreiche Zusammenarbeit setzt ein Mindestmaß an Sympathie und gegenseitigem Vertrauen voraus. Endlich sorgt die verbreitete Verdrängung der antagonistischen Seite von Politik (des „Politischen“) verlässlich dafür, dass ständiger „Streit“ in einer Koalition bei Wahlen nicht honoriert wird.

Trotz alledem erscheint mir die Wiedergewinnung eines eigenständigen Profils ohne Angst vor Konfrontation die einzige Chance für die SPD zu sein, ihren rasanten Niedergang aufzuhalten und nicht auch noch aus dem 10-Prozent- Turm zu fallen.

Abschließend komme ich zum Titel dieses Essays zurück. Wenn Politik auch in der Demokratie vor allem als Entscheidung und nicht als Ergebnis einer rationalen Deliberation gedacht werden muss, dann wird man für seine Überzeugungen wohl kämpfen müssen. Selbstverständlich darf dieser Kampf nicht von politischer Gegnerschaft in Feindschaft umschlagen, ein kleiner nicht-antagonistischer Kern sollte erhalten bleiben:²⁰ Ein Grundkonsens über die Form der politischen Auseinandersetzung und – von der politischen Linken manchmal ausgeblendet – die Identifikation mit einem konkreten Gemeinwesen sind wohl Grundvoraussetzung für einen funktionierenden politischen Prozess.

Alles Weitere ist – zivilisierter – Kampf. Dieser Kampf soll durch Demokratie und Rechtsstaat eingehegt werden – aber er ist nicht aus der Welt zu schaffen. Wenn die Sozialdemokratie bestehen will, dann muss sie bereit sein, sich diesem Kampf zu stellen.

¹ Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, 9. Auflage Berlin 2015. Dieser Text ist oft missverstanden worden; das „Politische“ als Freund/Feind-Verhältnis präsentiert Schmitt hier nicht als Appell, sondern als analytische Kategorie. An diese Überlegungen knüpft Chantal Mouffe dann in modifizierter Form an, ohne Schmitts autoritäre Schlussfolgerungen zu teilen. Von diesem punktuellen Anknüpfungspunkt unberührt bleibt die Feststellung, dass Schmitt zu den „furchtbaren Juristen“ (Ingo Müller) gehörte, die mit den Nationalsozialisten kollaborierten.
² Chantal Mouffe hat ihre Auffassung in einer Vielzahl von Büchern dargestellt, vgl. u.a. Chantal Mouffe, Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Bonn 2010; dies., Agonistik. Die Welt politisch denken, Berlin 2. Auflage 2016.
³ Die philosophische Begründung dieser Sichtweise Mouffes kann hier nicht dargestellt werden. Mir erscheint es unabhängig von der Begründung ausreichend, dass die Beschreibung des Phänomens in hohem Maße plausibel ist. Auch Schmitt hatte sich noch auf eine Beschreibung des Phänomens beschränkt.
⁴ Möllers, Christoph, Mythos Wertefundament: 75 Jahre Grundgesetz, VerfBlog, 2024/5/23 https://verfassungsblog.de/mythos-wertefundament/, abgerufen am 09. März 2024
Zur Entmachtung der Parlamente Andreas Fisahn, Repressive Toleranz und marktkonforme Demokratie. Zur Entwicklung von Rechtsstaat und Demokratie in der Bundesrepublik, Köln 2022. Zur demokratietheoretischen Kritik an sog. „Schiedsgerichten“ in Freihandelsabkommen Folke große Deters, Warum CETA ein demokratischer und rechtsstaatlicher Skandal ist, in: spw 06/2022
Vgl. Philip Manow, Unter Beobachtung. Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde, Berlin 2024
Aus diesem Grund wähnte uns die politische Theoretikerin Ingeborg Maus schon 1992 in einem Zeitalter der „Gegenaufklärung“, weil die Volkssouveränität immer weiter eingeschränkt sei, vgl. Ingeborg Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Rechts- und demokratietheoretische Überlegungen im Anschluss an Kant, Frankfurt 1992, S. 7, vgl. auch dieselbe, Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie, Berlin 2011.
vgl. statt vieler die Studie von Kolja Möller, Volk und Elite, Berlin 2024, S. 45 ff. Grundsätzlicher zum Spannungsfeld von Volkssouveränität und Institutionalisierung/Verrechtlichung lesenswert Benno Zabel, Politische Gewalt. Zur Dekonstruktion eines umkämpften Begriffs, in: Rüdiger Voigt (Hg), Freund-Feind-Denken. Carl Schmitts Kategorien des Politischen, 2. Auflage Baden-Baden 2021
Ich halte den zum Gemeingut gewordenen Befund einer Verrohung des politischen Diskurses jedenfalls dann für fragwürdig, wenn der Betrachtungszeitraum mehr als nur die 2000er Jahre umfasst. Die Verleumdungen und Diffamierungen Willy Brandts durch die politische Rechte (vgl. die widerwärtige Parole: „Brandt an die Wand“) zeugen davon, dass „Hass und Hetze“ auch in der Bonner Republik sehr präsent waren.
¹⁰ Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Königsberg 1798, B 196,197
¹¹ aaO., B 242,243
¹² Jürgen Habermas, Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik, Berlin 2022, S. 100
¹³ vgl. Chantal Mouffe, Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Bonn 2010, S. 157 f
¹⁴ Auf diesen Zirkelschluss aller Vertragstheorien hat bereits Kant hingewiesen, vgl. Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Königsberg 1798, § 47
¹⁵ Diese prägnante Formulierung verdanke ich dem Bonner Rechtsphilosophen Rainer Zaczyk.
¹⁶ Tom Krebs, Marktliberalismus und Sozialdemokratie, in: spw 04/2024, S. 14 ff.
¹⁷ Robert Misik, Die falschen Freunde der einfachen Leute, 3. Auflage Berlin 2023.
¹⁸ So Andreas Fisahn in diesem Heft
¹⁹ Ob eine schwarz-rote Koalition zu Stande kommt, stand bei Einreichung des Artikels noch nicht fest.
²⁰ Statt vieler Hermann Heller, Politische Demokratie und soziale Hegemonie, in: Ridvan Ciftci, Andras Fisahn (Hg), Nach-Gelesen. Ein- und weiterführende Texte zur materialistischen Theorie von Staat, Demokratie und Recht, Hamburg 2019. Vgl. auch den einschlägigen Passus aus der berühmten Rede Herbert Wehners im Deutschen Bundestag vom 30. Juni 1960, in: Knut Terjung (Hg), Der Onkel. Herbert Wehner in Gesprächen und Interviews, Hamburg 1986, S. 270.

2025-07-02T12:09:30+02:00
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