Heft261 – 04/2024
rezension: Der Eurokommunismus
#kultur #kritik #spw
Thilo Scholle ist Jurist, Er lebt in Lünen und Berlin.
VON Thilo Scholle
Francesco Di Palma/Walther L. Bernecker/Jean-Nums Ducange/Maximilian Graf/Irina Kasarina/Wolfgang Müller (Hrsg.)
Der Eurokommunismus
Schlüsseltexte und neue Quellen
Metropol Verlag, Berlin 2024
310 Seiten, 24 €
Die Entwicklungen des Eurokommunismus gehörten in den 1970er und frühen 1980er Jahren sicherlich zu den spannendsten theoretischanalytischen Entwicklungen des europäischen Parteikommunismus. Geführt vor allem in den kommunistischen Parteien Italiens (PCI), Frankreichs (PCF) und Spaniens (PCE) entwickelte er in Abgrenzung zu den Vorgaben aus der Sowjetunion Strategien kommunistischer Politik innerhalb des demokratischen Verfassungsstaates und bot so auch Anknüpfungspunkte für Debatten im linkssozialistischen Spektrum auch im deutschen Sprachraum bis hinein in die Diskurse im Umfeld der „spw“.
Ihre Einleitung beginnen die Herausgeber*innen mit der in der Folge dann verneinten Frage, ob eine Auseinandersetzung mit dem Eurokommunismus aus wissenschaftlicher Sicht heute überhaupt noch lohne oder ob der Eurokommunismus nicht als überforscht zu betrachten sei. Ziel des vorliegenden Bandes sei, anhand von im deutschsprachigen Raum bislang schwach bis gar nicht rezipierten Schlüsseltexten und neu erschlossenen Archivalien politisch-historische Hintergründe, Akteure, Deutungen und theoretische Grundlagen dieser Strömung herauszustellen. Einen allgemeinen „Springpunkt“ für die Entwicklung der Theorie machen die Herausgeber*innen nicht aus. Die Wege von PCI, PCF und PCE seien zwar durch „internationale Entwicklungen und transnationale Wechselwirkungen“ beeinflusst worden, hätten aber spezifisch-nationale Rahmenbedingungen gehabt. Die Autor*innen weisen allerdings darauf hin, dass Palmiro Togliatti bereits kurz 1 Thilo Scholle ist Jurist. Er lebt in Lünen und Berlin. nach dem Zweiten Weltkrieg erste Überlegungen zu „Einheit in der Vielfalt“ und jeweilige „nationale Wege zum Sozialismus“ öffentlich diskutiert habe.
Gegliedert ist der Band in fünf thematische Blöcke, die jeweils aus einer kurzen Einleitung eines der Herausgeber*innen sowie den anschließenden Dokumenten besteht. Den Auftakt macht ein Abschnitt zum PCI von Franceso Di Palma. Interessant ist hier unter den Dokumenten beispielsweise ein Interview mit dem damaligen Parteiführer Enrico Berlinguer aus dem April 1975, in dem er sich klar auf die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse der frühen Nachkriegszeit und ihren politischen Möglichkeitsraum als Ausgangspunkt für kommunistische Politikentwicklung bezieht. Der „Kampf für die Demokratie“ sei ein integraler Bestandteil eines Transformationsprozesses hin zum Sozialismus. In einem weiteren Interview aus dem Jahr 1979 unterstreicht er zudem den „Impuls zur Revolution“, der von den Ländern des Westens ausgehe. Zugleich deutet er sehr offen einen Stillstand bei der politisch-theoretischen Weiterentwicklung im Osten an. Den folgenden Abschnitt zur Politik der PCE leitet Walter L. Bernecker ein. Dabei diskutiert er auch die bei Zeitgenoss*innen als ambivalent wahrgenommene Rolle des damaligen Parteichefs Santiago Carillo, die je nachdem eher als Handeln aus Überzeugung oder aus Opportunismus verstanden wurde. In einem in Auszügen abgedruckten Manifest der PCE aus dem Jahr 1975 heißt es: „Der Sozialismus wird in diesem Teil Europas nur durch die volle Entwicklung der Demokratie siegen und sich festigen können durch die Bekräftigung des Wertes der persönlichen und kollektiven Freiheiten, des Verzichts auf die Amtlichkeit einer Staatsideologie, bei gleichzeitiger demokratischer und dezentralisierter Gliederung, Parteienvielfalt, Gewerkschaftsautonomie, religiösen Freiheiten, Freiheit der Meinungsäußerung, der Kultur und der Wissenschaft.“ Dritte behandelte Partei ist der PCF, zu dem Jean-Numa Ducange die Einleitung beisteuert.
Interessant ist etwa ein Text des Parteiideologen Jean Kanapa aus dem Jahr 1978, in dem dieser festhält, der Eurokommunismus sei keine Ideologie oder gemeinsame Parteilinie, sondern nehme die Vielfalt der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen ihres Landes ernst. Er sei auch keine Variante der Sozialdemokratie, deren Politik sich aktuell als Austeritätspolitik und Autoritarismus zusammenfassen lasse. Für ihn drücke Eurokommunismus das Streben der Werktätigen nach Sozialismus in Freiheit aus. Die letzten beiden Abschnitte widmen sich SED und KPdSU. Maximilian Graf präsentiert die Auszüge aus SED-Dokumenten, in erster Linie aus Gesprächsnotizen zum Austausch mit sowjetischen Vertretern. Diskussionen mit westdeutschen oder westeuropäischen Kommunisten sind in diesem Band nicht enthalten. Wolfgang Müller und Irina Kasarina schließen den Band sodann mit einem Überblick über Quellen der KPdSU selbst ab. Anders als bei den SED-Dokumenten geht es hier überwiegend um Gesprächsvorbereitungen und Notizen zu Diskussionen mit den drei westlichen eurokommunistischen Parteien selbst. Dass die Sowjets die Theorie des Eurokommunismus durchaus ernst nahmen, zeigt etwa eine „Gedächtnisstütze“ für ein Gespräch des Generalsekretärs der KPdSU, Leonid Breschnew, mit dem Generalsekretär der PCF, Georges Marchais, aus dem Dezember 1975, in dem beispielsweise die Idee, nicht-kommunistische Parteien könnte so etwas wie uneingeschränkte Handlungsfreiheit zugebilligt werden, als höchst problematisch markiert wird.
Ein interessanter Band, der allerdings in Bezug auf eurokommunistische Theorieentwicklung nicht zu sehr in die Tiefe geht. Deutlich wird, dass es den beteiligten westlichen kommunistischen Parteien nicht nur um taktische Positionierungen ging, sondern durchaus um ernsthafte grundsätzliche Vorstellungen von einem demokratischen Weg zum Kommunismus. So ist der Band zwar keine Fundgrube für aktuelle theoretische Bezüge, sondern tatsächlich – wie von den Herausgeber*innen auch selbst als Anspruch formuliert – ein interessanter Beitrag zur historischen Einordnung des Eurokommunismus in seinem eigenen (partei-) politischen Bezugsfeld.