Heft261 – 04/2024
Sammelrezension: Rechtstheorie im Anschluss an Marx
#kultur #kritik #spw
Thilo Scholle ist Jurist. Er lebt in Lünen und Berlin.
VON Thilo Scholle
René Bohnstingl/Andreas Kranebitter/Linda Lilith Obermayr/Karl Reitter (Hrsg.)
Jahrbuch für marxistische Gesellschaftstheorie
#1: Staatskritik, Marxistisches Denken
Mandelbaum Verlag, Wien 2022
321 Seiten, 20 €
René Bohnstingl/Monika Mokre/Linda Lilith Obermayr/Karl Reitter (Hrsg.)
Jahrbuch für marxistische Gesellschaftstheorie
#2: Arbeitskritik und weiteres
Mandelbaum Verlag, Wien 2022
284 Seiten, 20 €
Andreas Fisahn
Repressive Toleranz und marktkonforme Demokratie
Zur Entwicklung von Rechtsstaat und Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland
PapyRossa Verlag, Köln 2022
709 Seiten, 39 €
Linda Lilith Obermayr
Die Kritik der marxistischen Rechtstheorie. Zu Paschukanis’ Begriff der Rechtsform
Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2022
284 Seiten, 39,90 €
Matthias Peitsch
Prämissen der Rechtstheorie
Der Homo Juridicus und seine Kritik im historischen Materialismus
Verlag Turia + Kant, Wien 2020
408 Seiten, 40 €
Dirk Purschke
Der Rechtsgedanke bei Marx. Quellenstudien zu einer Entwicklungsgeschichtlichen Rekonstruktion seiner Philosophie des Rechts
Walter de Gruyter Verlag, Berlin 2022
312 Seiten, 99,95 €
Mike Schmeitzner (Hrsg.)
Die Diktatur des Proletariats
Begriff – Staat – Revision
Nomos Verlag, Baden-Baden 2022
290 Seiten, 59 €
Daniel Uhlig
Das Recht bei Marx und im Materialismus
Eine systematische Darstellung der Thesen materialistischer Rechtstheorien und ihrer Probleme unter Berücksichtigung der wirtschaftstheoretischen und philosophischen Prämissen
Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2020
412 Seiten, 99,90 €
Carolina Alves Vestana
Das Recht in Bewegung. Kollektive Mobilisierung des Rechts in Zeiten der Austeritätspolitik
Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2022
285 Seiten, 39,90 €
Tim Wihl
Aufhebungsrechte
Form, Zeitlichkeit und Gleichheit der Grund- und Menschenrechte
Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2019
285 Seiten, 39,90 €
Die Rolle von Recht und Staat spielt bereits seit den frühen Texten im Werk von Marx und Engels eine beachtenswerte Rolle. Eine ausformulierte Theorie von Recht und Staatlichkeit haben beide allerdings nicht entwickelt. In marxistisch orientierten Theoriedebatten der Arbeiter:innenbewegung über Funktion und Nutzen des Rechts für sozialistische Politik ging es vor allem darum, ob aus und mit dem Recht eigene Handlungsmöglichkeiten der Bewegung entstehen, oder ob Recht vollständig an die Funktion der kapitalistischen Ökonomie gebunden ist. Auch in aktuellen Versuchen einer Rekonstruktion und Aktualisierung marxistischer Rechtstheorie lassen sich diese Themen ausmachen.
Ein interessantes neues Buchprojekt stellt das „Jahrbuch für marxistische Gesellschaftstheorie“ dar, das neben etwa einem Dutzend an Aufsätzen auch Rezensionen und weitere Beiträge enthält. In ihrem Editorial zum ersten Band halten die im Namen eines Redaktionskollektivs auftretenden Herausgeber:innen fest, das Jahrbuch solle Platz für alle schaffen, die an Marx und verschiedene Marxismen anknüpfen und diese weiterentwickeln wollen. Das Marxsche Denken solle nicht philologisch rekonstruiert werden, sondern den Hintergrund einer Reflexion gesellschaftlicher Entwicklungen bilden. Mit Blick auf den Schwerpunkt des ersten Bandes, „Staatskritik“, schreiben sie, der bürgerliche Staat könne als die politische Gewalt der kapitalistischen Produktionsweise verstanden werden. Staatstheorie im engeren Sinne betreiben allerdings nur zwei Beiträge des Schwerpunkts. So schreibt Karl Reitter über „Elemente der Marxschen Staatskritik“ und Lukas Egger bietet „Thesen zu Rassismus und Staatlichkeit aus der Perspektive der materialistischen Staatstheorie“. Interessant ist der Beitrag von Emanuel Kapfinger zur „Rekonstruktion revolutionärer Theorie“, in der er für den deutschen Sprachraum fünf „typische Richtungen“ ausmacht – den „orthodoxen Marxismus“, die „linke Theorie“ im Sinne eines Projekts gegen Diskriminierung und für Solidarität, den „antiautoritären Kommunismus“, die „kritische Philosophie“ insbesondere der Begriffsarbeit und den „Poststrukturalismus“. Der Autor legt sich selbst nicht auf eine Richtung fest, sondern plädiert vor allem für Arbeit an der Theorie sowie Organisation der Theorie – also Austausch und breiten theoretischen Diskurs. Lesenswert ist auch Gerhard Hanlosers Skizze zur Rezeption Eugen Dührings in den zeitgenössischen Rezeptionen der Sozialdemokratie. Deutlich wird die klare Haltung von Friedrich Engels gegen den im Werk Dührings wahrgenommenen Antisemitismus und die durchaus historisch relevante Rolle, diesen aus der Sozialdemokratie gedrängt zu haben. Ausdrücklich ohne Schwerpunkt kommt Band 2 des Jahrbuchs aus. Slave Cubela widmet sich unter der Überschrift „Totale Herrschaft und Produktion“ der Geschichte der Arbeit im 20. Jahrhundert, und stellt die „totale Kontrolle“ über den Produktionsprozess in den Mittelpunkt der Darstellung. Sehr vereinfacht geht der Autor dann aber vor, wenn er für die 1920er Jahre Henry Ford als Vorbild der deutschen Sozialdemokratie ausmacht. Die Sozialdemokratie sei davon überzeugt gewesen, dass die Arbeiter in den großen Unternehmen eine Produktivkraftentwicklung voranbringen würden, die man in der angestrebten Wirtschaftsdemokratie nach Sozialisierung dieser Unternehmen zur materiellen Umverteilung hätte nutzen können. „Die Nationalsozialisten knüpften an die sozialdemokratische Vorstellung der deutschen Arbeit an“. Diese Verschiebung des analytischen Ausgangspunktes von einer eigentlich auch an Marx anschließenden Vorstellung, dass mit der Ausweitung von Produktion auch Ausweitungen der gesellschaftlichen Steuerungsmöglichkeiten einhergehen können, auf Henry Ford und den Nationalsozialismus überzeugt nicht.
Staatsableitungen
Analytischer Ausgangspunkt für eine Reihe von Arbeiten bleibt das Werk des sowjetischen Theoretikers Eugen Paschukanis, insbesondere dessen „Allgemeine Rechtslehre des Marxismus“. Auch Linda Lilith Obermayr bezieht sich an zentraler Stelle auf das Werk Paschukanis und versucht, aus der zeitgenössischen „bürgerlichen“ Kritik an Paschukanis durch den Rechtstheoretiker Hans Kelsen einen Kern marxistischer Rechtstheorie zu entwickeln. Rechtstheorie in diesem Sinne müsse zugleich Rechtskritik sein, und – mit Bezug auf Paschukanis – eine Kritik der Rechtsform an sich. Anders als die Austromarxisten etwa habe Paschukanis eine gesellschaftliche Veränderung durch Veränderung des Rechts als nicht möglich erachtet. Auf dem Weg in eine sozialistische Gesellschaft werde das Recht letztlich absterben und andere Formen der gesellschaftlichen Aushandlung an seine Stelle treten. Letztlich würden sowohl Marx wie auch Paschukanis und Kelsen versuchen, „den Blick für die unverhüllte soziale Realität zu öffnen“. Zentral für Obermayr ist, dass Paschukanis nicht bei einer Kritik des Rechtsinhalts stehen bleibe und die Vermittlung der kapitalistischen Ausbeutung damit keine Frage der inhaltlichen Ausgestaltung des Rechts sei. Diese Erkenntnis folgt bei Obermayr allerdings nicht aus einem Abgleich mit jeweils konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern aus einer im Band detaillierter entwickelten Lesart der Marxschen Methodik.
Daniel Uhlig versucht in seiner Monografie anhand der Marxschen Primärtexte sowie von einigen Exegeten, ebenfalls Elemente einer Rechtstheorie bei Marx und Engels freizulegen. Recht bzw. vor allem Rechtswissenschaft werde bei Marx eher als Ideologie verstanden. Die teils aus dem Marxschen Werk entnommene These von einem Absterben des Staates und einem Ende des Rechts in einer kommunistischen Gesellschaft sei in erheblichem Maße reduktionistisch. „Insofern bietet sich an, die Absterbethese eher als einen Fluchtpunkt aufzufassen. Die Absterbethese zielt auf Emanzipation. Sie formuliert mit der Überwindung jeglicher rechtlicher, mithin im Zweifel des Zwangs und staatlich vermittelter Gewalt bedürftiger Verhältnisse das – vielleicht in letztlicher Konsequenz unerreichbare – Ziel, dem sich eine Gesellschaft durch einen Ausbau von Selbstverwaltung, Selbstregulierung und Selbstorganisation annähern kann, wenn sie sich dafür entscheidet. Insofern betont die These vom Absterben des Rechts vielleicht am eindringlichsten von allen Thesen der materialistischen Rechtstheorie das Interesse am Herrschaftsabbau.“ So bleibe die Rechtstheorie eng an die Ökonomietheorie gebunden und hier insbesondere an die Wertlehre. Nach ausführlicher Auseinandersetzung verwirft Uhlig insbesondere unter Bezugnahme auf das Werk Eugen Böhm-Bawerks die Marxsche Arbeitswertlehre, empirisch lasse sich das Wertgesetz nicht begründen, an die Existenz des Wertgesetzes gekoppelten Feststellungen fehle es damit an der Möglichkeit der Falsifizierbarkeit. Zu retten sei vielleicht die soziale Beziehung, die dem Wertbegriff innewohne: „Mit der Wertlehre gab Marx seiner moralischen Perspektive einen Namen.“ Ein Anschluss an Marx sei möglich, setze aber viele Schritte funktionaler und kausaler Beziehungen zwischen den theoretischen Kategorien des Historischen Materialismus voraus.
Einen ausgesprochen anspruchsvollen Ansatz der Entwicklung materialistischer Rechtstheorie stellt der Band von Matthias Peitsch dar. Ausgangspunkt ist die These, zentrale Elemente materialistischer Rechtstheorie seien unter Bezug auf bürgerliche Rechtstheorien zu entwickeln. Bezugspunkte für das vorliegende Werk sind hier Texte von John Locke, Jean-Jacques Rousseau, Hans Kelsen und Daniel Loick, Hauptbezugspunkt mit Blick auf die Analyse und die Entfaltung marxscher Methodik ist für Peitsch Louis Althusser. Es gehe darum, die Evidenzen der anderen Rechtstheorien zu dekonstruieren und damit eine neue Problematik zu erschließen. Die Frage sei, ob der historische Materialismus mit den anderen existierenden Theoriegruppen gebrochen habe. Dabei gehe es auch um die – auch von Marx selbst – fälschlich angenommene Kontinuität von Begriffen. Zentral für Peitsch ist im Bereich der Klassenanalyse die Verwechslung von „interpersonaler“ mit einer „apersonalen“ Lesart. Die Produktionsverhältnisse dürften nicht als Konfrontation von Individuen verstanden werden. Das individuelle Dasein des Kapitalverhältnisses sei ein juristisches – und in der „juristischen Verwechslung“ würden Struktur und Element gleichgesetzt. Dies erkläre aber nicht, warum sich sonst das Recht als Form von dem gesellschaftlichen Verhältnis als Inhalt unterscheiden solle. Mit Blick auf das Recht gehe es gerade nicht um das autonome Zusammenleben von Individuen. Matthias Peitsch entfaltet seinen theoretischen Ansatz sorgfältig und präzise. Zugleich bietet er für nicht mit der Althusserschen Herangehensweise (oder ihrer Kritik) vertraute Leser:innen wenig Zugang zu seinem Stoff. Zudem stellt sich hier die – ähnlich wie bei den Bezügen auf Paschukanis wohl bereits im methodologischen Ausgangspunkt begründete – Frage nach dem Verhältnis der theoretischen Überlegungen zur jeweiligen empirisch fassbaren gesellschaftlichen Realität.
Staat, Recht und die tatsächlichen Verhältnisse
Eine Rekonstruktion der Marxschen Rechtsphilosophie ist auch Anliegen der Monografie von Dirk Purschke. Dabei mustert er vor allem die Texte der ersten Schaffensjahrzehnte Marxens auf ihre rechtsphilosophischen Bezüge durch und kommt im Ergebnis zwar zu einer allgemeinen Methodik der Rechtsbetrachtung bei Marx, aber nicht zu einer konsolidierten Theorie, die die Existenz von „Recht“ unmittelbar an das Bestehen einer kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung binden würde. Das positive Recht lasse sich immer nur aus seiner historischen Bestimmtheit heraus erfassen und stehe in einem strukturellen Abhängigkeitsverhältnis zu den materiellen Lebensverhältnissen, also etwa in Bezug auf die vorherrschenden Eigentumsverhältnisse. Die Kritik des Rechts werde damit bei Marx in eine Theorie der Geschichte eingebettet. So werde etwa im Kommunistischen Manifest auch die Möglichkeit des Appells an das Recht im Kontext des politischen Klassenkampfs weiter angeschärft. Die weiteren genannten Beispiele wie etwa die Einführung des Zehnstundentags in England, die Einführung einer starken Progressivsteuer sowie die Abschaffung des Erbrechts stellten Forderungen dar, die ohne positivrechtliche Regelungen kaum denkbar scheinen würden. Eine strikte Kopplung des Rechts im Sinne eines Basis-Überbau-Modells findet sich für den Autor bei Marx hingegen nicht. Das Recht bewege sich zwischen dem Sein eines gesellschaftlichen Zustands des fremdbestimmten Zusammenlebens und dem Sollen einer Vergesellschaftlichung, die sich durch Selbstbestimmung und eine solidarische Gestaltung sozialer Spielräume der Individuen auszeichne. Letztlich halte Marx damit an einer „progressiven Bezugsdimension des Rechts“ fest.
Die Verbindung theoretisch-analytischer Arbeit mit einem Blick auf die konkreten Verhältnisse gehört zu den zentralen Ansprüchen des Bandes „Repressive Toleranz und marktkonforme Demokratie“ von Andreas Fisahn. Gegliedert sind die Kapitel in die recht groben Unterteilungen „Rechtsstaat“ und „Demokratie“, an die sich abschließende reflektierende Kapitel anschließen. Fisahn folgt der Einbettung des Rechts in die ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, er sieht dabei auch die widersprüchlichen und teils gegenläufigen Entwicklungen, und vor allem nimmt er keine plumpen Ableitungen der rechtlichen Entwicklung aus den ökonomischen Verhältnissen vor: „Im Ergebnis werde ich zu zeigen ersuchen, dass der Rechtsstaat in der fordistischen Periode repressiver war als in der neoliberalen Ära, in der sich eine eigenartige Mischung aus Repressivität und Toleranz, also repressive Toleranz entwickelt hat“. Im Anschluss an Hermann Heller entwickelt Fisahn das Bild der „sozialen Kohäsion“, für ihn die Schaffung eines „WirGefühls“ um die Verfassung herum. Hart ist Fisahns Position zum Stand der Demokratie in der EU – und spannend die Frage, um welches Projekt herum auf europäischer Ebene „soziale Kohäsion“ entstehen kann. Fisahn mustert hier den auch auf EU-Ebene skizzierten „Green New Deal“ als zumindest über die Parteigrenzen hinweg akzeptiertes Kohäsionsprojekt durch, das zumindest in der Politik hegemonial werden könne. Eine die Perspektiven des globalen Nordens wie des globalen Südens berücksichtigende Perspektive lasse sich unter der Überschrift des „guten Lebens“ (als Ersetzung eines konsumorientierten Wohlstandsbegriffs) zwar denken, aber nur bei einer Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse wirklich betreiben.
Der Begriff der „Diktatur des Proletariats“ gehört bereits bei Marx und Engels zu den eher schillernden Begriffen. In der kommunistischen Interpretation wurde das Diktum zu einem der zentralen Begriffe der Staatstheorie. Eine Reihe spannender Einordnungen zu Begriffsgeschichte, Auseinandersetzungen und Verwendung des Begriffs sowohl in der sozialdemokratischen Arbeiter:innenbewegung wie auch in den kommunistischen Staaten nach dem zweiten Weltkrieg enthält der von Mike Schmeitzner herausgegebene Sammelband. In seiner Einleitung verweist Schmeitzner auf die begriffliche Unklarheit bei Marx. Erst Lenin habe es dann unternommen, aus verstreuten einzelnen Bezügen auf den Begriff ein auf seine eigenen autoritären Partei- und Politikkonzepte bezogenes Konzept zu kreieren. Während etwa Karl Kautsky den Begriff als Klassenherrschaft im Rahmen einer parlamentarischen Demokratie verstanden habe, hätten Lenin und Trotzki ihn im Sinne einer repressiven Parteidiktatur interpretiert. Sehr instruktiv sind bereits die beiden eröffnenden Beiträge von Wilfried Nippel und nochmals von Mike Schmeitzner jeweils zur Geschichte des Begriffs sowie zum Deutungskampf zwischen Lenin, Trotzki und Kautsky um den Begriff. Uli Schöler steuert zudem einen interessanten Beitrag zur Diskussion über den Begriff bei den Menschewiken und insbesondere bei Julius Martow bei. Der zweite Abschnitt widmet sich lesenswert drei konkreten frühen Realisationsbeispielen: Russland, Ungarn und Bayern. Mit Blick auf die weitere Wirkungsgeschichte des Konzepts interessant ist zudem Nikolas Dörrs Beitrag zum Eurokommunismus. Nicht ganz überzeugen kann Jan Claas Behrends Beitrag zu Stalin, da er dort durchgängig von einem feststehenden Begriff des „Marxismus“ sowie vom Denken eines „Marxisten“ auszugehen scheint und vor allem nicht wirklich klar macht, warum Stalin für ihn über alle persönlichen Lebensphasen hinweg in einem solchen Sinne „Marxist“ geblieben ist. Deutlich wird bei Lektüre des Bandes, das eine den Begriff „Diktatur“ rein instrumentell verstehende Variante bei Marx und Engels keine Basis finden kann – der Begriff aber letztlich weder analytisch noch normativ wirklich weiterhilft.
Das Recht als politisches Kampffeld
(Sehr anspruchsvolle) rechtstheoretische Anschlüsse an Marx sucht auch Tim Wihl. Mit dem Begriff der „Aufhebungsrechte“ versucht er dabei, Möglichkeiten einer rechtsförmig werdenden demokratischen Politik zu beschreiben. Zentral ist dabei die Bedeutung des Prinzips der Gleichheit – stärker noch als die von Freiheit und Eigentum. Moderne Rechte seien ohne possessive Inhalte wie ohne freiheitliche Gehalte denkbar – aber ohne Egalität lasse sich nicht von modernen Aufhebungsrechten sprechen. Das egalitäre Zukunftsmoment des Rechts korrespondiere mit dessen Konstitutionskraft für die Aufhebungsrechte, das „diese Rechte eine progressive, gleichheitsorientierte Politik, die ihrerseits jede dem Begriff nach demokratische Politik durch eine zumindest fundamentale Fortschritts- und Gleichheitsorientierung gleichzeitig erst konstituiert.“ Krisen der Demokratie seien so auch Krisen der Aufhebungsrechte. Recht im Sinne der Aufhebungsrechte wird so zu einem Teil gesellschaftlicher Auseinandersetzung, die fortschrittliche Entwicklung immer wieder aufs neue antreiben kann.
Einen optimistischeren Blick auf die Möglichkeiten gesellschaftlicher Gestaltung durch Recht wirft auch Carolina Alves Vestena. Staatliche und rechtliche Institutionen sieht die Autorin vor allem als Ausdruck sozialer Verhältnisse. Das juridische Feld konstituiere sich als „relational autonomer sozialer Bereich gegenüber den anderen sozialen Feldern“. Recht sei dabei strukturell widersprüchlich: Kollektive Akteurskonstellationen könnten sich im Kontext ihrer sozialen Kämpfe auf die Grammatik der etablierten Rechte berufen – allerdings nicht unmittelbar, sondern vermittelt über die juristischen Lehren. Als Praxistest ihres theoretischen Rahmens wählt die Autorin die Auseinandersetzungen in Portugal über die Durchsetzung bzw. Rücknahme der Austeritätspolitik in Portugal im Anschluss an die Finanzkrise seit 2007. Nach einer Zeit der sozialen Proteste hätte hier das Verfassungsgericht zumindest teilweise Anliegen der Protestbewegungen aufgenommen. Allerdings drückt sich dies auch nach Darstellung der Autorin nicht durch ausdrückliche Bezugnahmen auf gesellschaftliche Diskussionen in den entsprechenden Urteilen aus, so dass der Nachweis des theoretischen Rahmens nicht ganz gelingt. Etwas einfacher wäre hier vielleicht der – im Band nur gestreifte – Blick auf politische Parteien und ihre Arbeit an der Umsetzung gesellschaftlicher Mehrheiten in einen rechtlichen Rahmen.
Die Erkenntnis, dass die Entwicklung des Rechts immer auch mit Blick auf Veränderungen gesellschaftlicher Macht- und Kräfteverhältnisse beschrieben werden muss, ist eigentlich wenig überraschend. Da Recht gesellschaftliche Macht nicht einfach widerspiegelt, ist die Arbeit an der Frage, wie diese Beeinflussung konkret vonstattengeht, zentral. Die in den vorgestellten Bänden dargestellten Ansätze bieten dazu durchaus anregende analytische Ausgangspunkte – die allerdings überwiegend noch deutlich stärker mit Blick auf konkrete Beispiele angewandt und damit auch auf ihre tatsächliche Tauglichkeit überprüft werden könnten. Grundsätzlich spricht viel dafür, „Recht“ nicht unmittelbar an das Bestehen des Kapitalverhältnisses zu koppeln, sondern es im Sinne der Rekonstruktion marxschen Denkens bei Purschke und Fisahn als Feld gesellschaftlicher Auseinandersetzungen zu begreifen.