Heft261 – 04/2023
Kant und Marx
#analyse #spw
Michael R. Krätke, studierte Soziologie, Wirtschaftswissenschaften und Politikwissenschaft in Berlin und Paris, lehrte Soziologie in Berlin und Bielefeld und Politikwissenschaft in Kassel, war Professor für Politische Ökonomie an der Universität von Amsterdam, an der Universität Lancaster (UK) und an der Tohoku Universität in Sendai, Japan. Von 2009 – 2011 war er Direktor des Institute of Advanced Studies in Lancaster. Gegenwärtig Emeritus und Professor für Politische Theorie an der Universität von Wuhan, VRChina. Hat neben zahlreichen Aufsätzen in Zeitschriften und Sammelbänden etliche Bücher zur Politischen Ökonomie veröffentlicht und war an mehreren internationalen Forschungs- und Editionsprojekten beteiligt (u.a. an der MEGA2). Arbeitet seit vielen Jahren auch als Wirtschaftsjournalist für deutsche, schweizerische und französische Zeitungen. Lebt in Amsterdam.
VON Michael R. Krätke
Zum hundertsten Todestag Immanuel Kants, im Jahre 1904, erschienen in der „Neuen Zeit“, der damals wichtigsten und einflussreichsten sozialistischen Zeitschrift in Deutschland und in Europa, etliche Gedenkartikel. In einem ungezeichneten Leitartikel mit dem schlichten Titel „Immanuel Kant“ wandte sich der Autor gegen die damalige Modeparole „Zurück zu Kant“. Kant kann für uns heute nicht mehr sein als ein Vordenker der bürgerlichen Aufklärung mit all seinen historisch bedingten Beschränkungen, erklärte er.³ Damals war die Sozialdemokratie schon längst keine Sekte mehr, sondern eine soziale und politische Massenbewegung, mit einer eigenen Lebenswelt und Öffentlichkeit. Die Gewerkschaften, die Genossenschaften, die Partei, die SPD, verlangten viele Opfer von ihren Funktionären, Aktivisten und Anhängern und konnten auf deren Loyalität zählen. Die Bewegung wie die Partei war „sozialistisch“, der Sozialismus, als Chiffre für eine andere und bessere Gesellschaft, galt unangefochten als gemeinsames Ziel. Ein Ziel, das in der Zukunft lag. Offiziell und programmatisch war die SPD, der politische Kopf der ganzen Bewegung, eine „marxistische“ Partei, der Marxismus galt unbestritten als die Parteidoktrin. Karl Kautsky, der Theoriepapst der Partei, verwaltete seit Engels‘ Tod im Jahre 1895 das Marxsche Erbe allein – und er verwaltete es gar nicht schlecht. Als Marxisten hielten die führenden Leute der Partei wenig von moralisierender Kritik der schlechten Gegenwart, auch wenn sie in prinzipieller Opposition zum Kaiserreich und zur bestehenden wilheminischen Gesellschaft standen. Der Sozialismus galt ihnen als historische Notwendigkeit, die Marxsche Theorie gab die wissenschaftliche Erklärung, warum es mit dem Kapitalismus zu Ende gehen musste – wenn nicht in absehbarer Zeit, so doch auf die Dauer. Dennoch konnten sie nicht umhin, Moral zu predigen – die sozialistische Bewegung war eine Bewegung für eine bessere, gerechtere Welt, sie vertrat eigene Werte, auch gegenüber ihren Anhängern. Sozialdemokraten sollten durchaus bessere Menschen sein, ihren Lohn nicht versaufen, ihre Frauen mit Respekt behandeln, ihre Kinder nicht schlagen, auf Sauberkeit achten usw. Seit jeher hatten die unteren Klassen ihre eigene „moralische Ökonomie“, die etwa solidarisches Verhalten pries und rücksichtloses, eigennütziges Verhalten verpönte. Ausbeutung – eine der Schlüsselkategorien der Marxschen Ökonomiekritik – war für sozialdemokratische Arbeiter in erster Linie eine moralische Kategorie. Sie hielten den Kapitalismus, wie sie ihn kannten, für zutiefst ungerecht und unmoralisch, ohne sich je in die Mehrwerttheorie vertieft zu haben. Daher schien vielen der Ruf, ja die Forderung nach einer zusätzlichen, einer ethischen Begründung des Sozialismus ganz plausibel. Wie anders ließen sich die Opfer rechtfertigen, die viele, Aktivisten, Funktionäre, einfache Mitglieder, brachten und damit auf ein gutes oder doch ein wenig besseres Leben für sich selbst im Hier und Heute für ein besseres, gutes Leben für viele andere in der Zukunft verzichteten. Was war im Blick auf das höhere Ziel erlaubt im Klassenkampf und was nicht? Darauf hatte die Sozialdemokratie – auch ohne Grundwertekommission – durchaus Antworten. Terrorismus, Attentate, Sabotage, gezielte Gewaltakte gegen Machthaber und Repräsentanten der bestehenden Ordnung verabscheute man, niemand rief zu Rachefeldzügen gegen die besitzenden Klassen oder zum Bürgerkrieg auf.
Den Sozialismus mit Kant neu zu begründen, Kant und Marx irgendwie philosophisch zu verbinden, das war die Idee einiger Akademiker, die die Schule des Neukantianismus in Deutschland begründeten. Marxisten waren keine darunter. Umso größer die Überraschung als Eduard Bernstein, einer der orthodoxesten Marxisten, Schüler und Freund von Marx und Engels, von Engels eingesetzt als Nachlassverwalter des Marxschen Erbes, in den Ruf nach mehr Kant auch in der Sozialdemokratie einzustimmen schien. Bernstein hatte in seiner gegen die orthodoxen Parteimarxisten und deren Deutung der aktuellen Weltlage – nicht gegen Marx und Engels – gerichteten Schrift über die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie (zuerst 1899) sogar um einen neuen Kant gebeten: Der Sozialdemokratie, so schrieb er, tue ein neuer Kant not, „der einmal mit der überkommenen Lehrmeinung mit voller Schärfe kritisch-sichtend ins Gericht geht, der aufzeigt, wo ihr scheinbarer Materialismus die höchste und darum am leichtesten irreführende Ideologie ist“. Ein solcher neuer Kant müsse gegen die Epigonen mit rücksichtsloser Schärfe bloßlegen, „was von dem Werke unserer großen Vorkämpfer wert und bestimmt ist fortzuleben und was fallen muss und fallen kann“.⁴ Offenkundig meinte Bernstein nicht eine neue ethische Begründung des Sozialismus im Kantschen Geist, sondern die notwendige Arbeit der Kritik, diesmal am Marxismus und an den Marx-Engelsschen Kategorien bzw. der von ihnen begründeten „historisch-materialistischen“ Denkweise. Dafür stand ihm der Name Kant. Nach dieser Provokation kamen auch die orthodoxesten Marxisten nicht mehr daran vorbei, sich mit Kant und Marx zu befassen. Bei Marx selbst wurden sie da nicht so rasch fündig, auch nicht bei Engels.
Kantianer waren sie nicht
Nein, als junge Männer waren Karl Marx und Friedrich Engels Hegelianer. Kant spielte an den deutschen Universitäten keine Rolle mehr, die Hochzeit des Kantianismus war um 1813 vorbei. Hegel und der Hegelianismus waren in den folgenden Jahren, nach Hegels Berufung auf den Lehrstuhl für Philosophie an der Berliner Universität 1818, große intellektuelle Mode geworden. Wer wie Marx 1818 oder wie Engels 1820 geboren war, der konnte sich als Student mit 19 oder 20 Jahren an den damaligen deutschen Universitäten dem Einfluss Hegels und der Hegelianer kaum entziehen. So ging es auch dem jungen Marx, der sich zunächst gegen Hegels Philosophie sträubte, deren „groteske Felsenmelodie“ ihm nicht behagte. Als enthusiastische Hegelanhänger teilten sie zunächst Hegels Sicht auf und Hegels Kritik an Kant und den Kantianern. Denn in Hegels Schriften taucht Kant immer wieder auf, Kant ist der Philosoph, auf dessen Werk Hegel aufbaute und den er kritisch überwinden wollte.
Allerdings begann Marx schon früh, den intellektuellen Übervater Hegel zu kritisieren und sich von ihm zu emanzipieren. Als sehr junger Mann, frisch in Jena mit einer Abhandlung über die griechische Naturphilosophie promoviert, arbeitete er an einer gründlichen „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, von der allerdings nur Teile und Fragmente erhalten geblieben sind; nur die Einleitung dazu wurde 1844 veröffentlicht. Darin kündigte er ein umfassendes Programm der Kritik an, von der Kritik der Religion bis zur Kritik der Politik.⁵ Immer wieder kam er auf Hegel zurück, ohne jemals wieder eine größere oder kleinere Abhandlung über dessen Philosophie zu schreiben. In seiner langwierigen Arbeit am „Kapital“ experimentierte er gelegentlich mit Hegel entlehnten Argumentationsfiguren. Nach eigenem Bekunden hat er im ersten Band des „Kapital“ mit der Hegelschen Ausdrucksweise „kokettiert“, eine Koketterie, die er jedoch schon in der zweiten Auflage dieses Bandes von 1872 wieder aufgab.⁶ Gegenüber den Zeitgenossen, die Hegel ebenso wie davor Kant zum toten Hund erklärt hatten, verteidigte er Hegel in den 1860er Jahren und später gegen den damaligen Zeitgeist. Aber Hegelianer war und wurde er nicht mehr.
Nach seiner Doktordissertation und nach einer langen Auseinandersetzung mit den Junghegelianern und mit dem von ihm zeitweilig hochverehrten Ludwig Feuerbach verlor Marx das Interesse an Philosophie, eine eigenständige Philosophie hat er nie entwickelt – und er hatte auch keinerlei Ehrgeiz in dieser Hinsicht. Auch wenn er gelegentlich andeutete, er würde gern einmal das „Rationelle“ an der Methode, die Hegel „entdeckt, aber zugleich mystifiziert hat“, allgemeinverständlich darlegen.⁷ Dazu ist er leider nie gekommen. Wenige hingeworfene Notizen – wie die im Frühjahr 1845 in ein Notizbuch gekritzelten „Thesen über Feuerbach“ – sind als das zu nehmen, was sie waren: Hingeworfene Notizen, Stichworte zu Einfällen, Andeutungen oder erste Ahnungen von Gedanken, die noch des Durch- und Nachdenkens, der Ausarbeitung bedurften – und nicht als Kern einer „marxistischen Philosophie“, die es nur in der Phantasie marxistischer Philosophen gibt.⁸ Nur gelegentlich, im Rahmen seiner naturwissenschaftlichen Studien kehrte er zu einigen Philosophen zurück, jedoch nicht zu Kant, auch nicht zu Hegel, sondern zu Leibniz oder Descartes. Erkenntnistheoretisch scheint er mehr für die Schriften von führenden Naturforschern seiner Zeit, wie des Biologen Charles Darwin und des Physikers Ernst Mach übrig gehabt zu haben als für die zeitgenössische Schulphilosophie.
Was Kant und Marx gemeinsam hatten
Beide waren Berufsintellektuelle, Kant ein Vorkämpfer der Aufklärung, als deren Erbe und Fortsetzer Marx sich sah. Beide teilten die Bewunderung, ja Verehrung für Jean Jacques Rousseau, die Rousseau-Lektüre hat beider politisches Denken stark beeinflusst. Beide waren von der welthistorischen Bedeutung der Französischen Revolution tief überzeugt, die Große Zeitenwende, die 1789 begann, bestimmte ihre Weltsicht. Beide wollten die Philosophie bzw. die Sozialwissenschaften ihrer Zeit revolutionieren, auch wenn Kant die Sozialwissenschaften noch ganz traditionell als Teil der Moralphilosophie und daher der Metaphysik sah. Beide betrieben das Geschäft der Kritik der herrschenden Denkweisen (in den Natur- und Sozialwissenschaften) und sahen darin ihre Lebensaufgabe. Ein politischer Aktivist und Revolutionär war Kant allerdings nie, auch wenn er sich in den Streit der Fakultäten und Wissenschaften mengte. Marx dagegen agierte des Öfteren als Politiker und Journalist, war aber imstande, sich rasch wieder in die Studierstube zurückzuziehen.
Kants philosophische Hauptwerke, geschrieben und veröffentlicht zwischen 1781 und 1790, sind allesamt mit „Kritiken“ betitelt und auch so gemeint: Als Kritiken der herrschenden Denkweise, als Versuche, die bisherigen Denkgewohnheiten zu überwinden. So die „Kritik der reinen Vernunft“ (1781/87), die „Kritik der praktischen Vernunft“ (1788) und die „Kritik der Urteilskraft“ (1790). Marx‘ Hauptwerk „Das Kapital“, hieß im Untertitel „Kritik der Politischen Ökonomie“.⁹ Der zentrale Strang dieser Kritik sollte die „Kritik der ökonomischen Kategorien“ sein, wie er seinem Freund und Rivalen Lassalle schrieb: „Die Arbeit, um die es sich zunächst handelt, ist Kritik der ökonomischen Kategorien oder, if you like, das System der bürgerlichen Ökonomie kritisch dargestellt.“¹⁰
Kant arbeitete lange an seinen Kritiken, die „Kritik der reinen Vernunft“ kostete ihn zehn Jahre, obwohl er das Buch nach langer Vorarbeit dann in kurzer Zeit (etwa fünf Monaten) niederschrieb und danach wieder teilweise umarbeitete bzw. ergänzte für die zweite Auflage, die sechs Jahre später erschien. Marx quälte sich noch viel länger mit seiner „Kritik der Politischen Ökonomie“, die ebenfalls drei bzw. vier Teile umfassen sollte. Er brachte sie nie zu Ende. Kant arbeitete seine Schriften um, allerdings nicht so fanatisch detailbesessen wie Marx, der bis zu seinem Tode insgesamt vier deutlich verschiedene Fassungen des ersten Bandes des „Kapital“ zustande brachte und weitere Fassungen vorbereitete, während er an den folgenden Bänden weiterarbeitete – und nie zu Ende kam.
Beide, Kant wie Marx, waren nicht zimperlich im Umgang mit ihren Zeitgenossen, sie kritisierten alle, verschonten niemanden. Kant hielt nicht viel von der akademischen Philosophie seiner Zeit, Marx hielt noch viel weniger von der Universitätswissenschaft seiner Zeit, für die zeitgenössische Ökonomie in Deutschland hatte er nur Verachtung übrig. Für beide gilt, dass der Erfolg ihrer Hauptwerke sich zunächst in Grenzen hielt. Beide hielten wenig von ihren Kritikern und reagierten kaum auf Einwände. Marx insbesondere wahrte ein geradezu erbittertes Schweigen gegenüber den frühen Kritikern seines Werks und wich allen Versuchen, ihn in eine öffentliche Debatte z.B. über seine Werttheorie zu verwickeln, hartnäckig aus. Kant immerhin hat seinen Ruhm noch erlebt, für Marx kam das erst lange nach seinem Tod. Kant bekam den „Kantianismus“ noch mit, die ersten mehrbändigen Ausgaben seiner Werke ebenso wie die ersten Kommentare und sogar ein regelrechtes Kant-Wörterbuch erschienen noch zu seinen Lebzeiten. Marx hat sich gegen den „Marxismus“ seiner Zeitgenossen heftig verwahrt – mit Ausnahme der Arbeiten seines Freundes Engels. Der Siegeszug des „Marxismus“, nicht an den Universitäten, wo er keine Rolle spielte, sondern in der sozialistischen Arbeiterbewegung, kam erst nach seinem Tode. Sein Freund Engels hatte daran den größten Anteil.¹¹ Doch regelrechte Werkausgaben begannen erst lange nach Marx‘ und Engels‘ Tod zu erscheinen.
Marx’ Kant-Studien
Ob und wie gründlich der junge Marx Kants Schriften studiert hat, wissen wir nicht genau. Er hat ihn studiert, das bezeugen seine Briefe. Wie er 1837 an seinen Vater schrieb, hat er sogar ein eigenes System der Rechtsphilosophie entwickelt – „im Grundschema“ an Kants Rechtsphilosophie angelehnt, doch „in der Ausführung gänzlich davon“ abweichend. Also dürfen wir annehmen, dass Marx auf jeden Fall den ersten Teil von Kants „Metaphysik der Sitten“ von 1797 gelesen haben muss, das Buch, in dem Kant seine Rechts- und Staatsphilosophie darlegte. Leider ist von diesem Marxschen Versuch nichts erhalten außer der Gliederung, die er seinem Vater mitteilte.¹² Notizen oder Exzerpte von Marx‘ Hand, die sich direkt auf Kants Werke beziehen, haben wir leider nicht. In seinen frühen philosophischen Exzerpten wird Kant nur wenige Male erwähnt. Aus den nachgelassenen Exzerpten von Marx sticht nur eins hervor, aus dem Jahre 1841: Da hat Marx „Notizen zur Geschichte der kantischen Schule“ aufgeschrieben, ein Exzerpt auf Karl Rosenkranz‘ Buch „Geschichte der Kantischen Philosophie“, das 1840 (als Band 12 der von Rosenkranz und Schubert besorgten Ausgabe von Kants sämtlichen Werken) erschienen war. Marx hat vor allem den dritten Teil exzerpiert, in dem Rosenkranz die Überwindung der kantischen Philosophie durch Hegel darstellte.¹³ Marx‘ Kant-Studien sind also nicht dokumentiert. Das gilt allerdings auch für seine Hegel-Studien. Dazu sind nur wenige Exzerpte überliefert, obwohl wir wissen, dass Marx z.B. Hegels „Wissenschaft der Logik“ gründlich und mehrfach studiert hat. Exzerpte und Notizen zu dieser Hegel-Lektüre, falls Marx sie (seiner Gewohnheit folgend) angefertigt hat, sind nicht erhalten. Trotzdem war Marx unbestreitbar ein ausgezeichneter Hegel-Kenner.
Marx und Kant – ein Gespräch?
So hat Oskar Negt das Verhältnis der beiden gesehen, er machte daraus gar ein „Epochengespräch“.¹⁴ Doch an einer Schwierigkeit kam auch er nicht vorbei. Marx und Engels sagen in ihren Schriften nicht viel über Kants Philosophie. Es gibt weder von dem einen noch von dem anderen detaillierte Auseinandersetzungen mit der Kantschen Philosophie. Was es gibt, sind Randbemerkungen, oft Wiederholungen von Einwänden anderer (z.B. Hegels) oder Versuche, Kant in Kurzform in seinen historischen Kontext zu stellen. Direkte Einflüsse von Kants Denken auf Marx (und/oder Engels) lassen sich – anders als bei Hegel – nicht nachweisen. So kommt man nicht umhin, in ihrem weitgefächerten Werk nach impliziten Bezügen zu Kant zu suchen. Solche Bezüge gibt es – trotz und gegen die herrschende Lehrmeinung im sogenannten Marxismus-Leninismus, wo Kant in der Regel als Haupt des deutschen Idealismus abgeheftet und erledigt wird, also als Jemand, mit dem die erklärten „Materialisten“ Marx und Engels gar nicht zu tun haben konnten.
Erstaunlich, aber wahr: Marx (wie auch Engels) verteidigen und preisen Kants philosophische Leistung. Marx folgt dem Urteil seines Freundes Heinrich Heine, der Kant in seiner Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland als „grosse[n] Zerstörer im Reiche der Gedanken“ rühmte. Kants Philosophie „war eine Revolution“ – und zwar eine heftige, Kant übertraf „an Terrorismus den Maximilian Robespierre“, so Heine.¹⁵ Kants Philosophie sei mit Recht als die „deutsche Theorie der Französischen Revolution“ zu betrachten, schrieb der junge Marx, Kant gegen seine Kritiker verteidigend, 1842.¹⁶ Implizit kann man in Marx‘ früher Hegel-Kritik (der Kritik der Rechtsphilosophie) einen Anklang an Kant finden: Geradezu heftig kehrt Marx sich dort gegen die Zumutung, sich losgelöst von aller Erfahrung auf die „Sache der Logik“ zu verlassen, statt streng der „Logik der Sache“, d.h. eines konkreten empirischen Gegenstands, zu folgen.¹⁷ In seinen wenigen Äußerungen zur Methode lassen sich auch Anklänge an Kants Darstellung des Erkenntnisprozesses in der „Kritik der reinen Vernunft“ finden. So, wenn Marx in seinen Thesen zu Feuerbach von 1845 gegenüber dem bisherigen, bloß „anschauenden Materialismus“, der die „sinnlichmenschliche Tätigkeit, Praxis“ übersehen und vernachlässigt habe, die Leistung des Idealismus – Kant ist gemeint – rühmt, weil der „die tätige Seite […] entwickelt“ habe, wenn auch nur „abstrakt“.¹⁸ Das ist klar auf Kant gemünzt, der das Denken als Tätigkeit auffasst, die allererst „den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntnis der Gegenstände“ verarbeiten kann.¹⁹ Auch Marx‘ Insistieren auf den „Grenzen der Dialektik“, seine (selbst)kritischen Bemerkungen über „Begriffskonstruktionen a priori“ kann man als impliziten Bezug auf Kant deuten. Der sieht die Grenze zum falschen Gebrauch der Dialektik überschritten, wo sie als „Organon zur wirklichen Hervorbringung […] von objektiven Behauptungen gebraucht“ wird.²⁰
Engels hat den Stolz auf die deutsche Philosophie „von Kant bis Hegel“ oft bekundet. Wir „deutschen Sozialisten“, schrieb er 1882 im Vorwort zur ersten deutschen Ausgabe seines Bestsellers „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“, sind stolz darauf, „von Kant, Fichte und Hegel“ abzustammen.²¹ So reklamierte er das Erbe der klassischen deutschen Philosophie für die sozialistische Arbeiterbewegung (zumindest in Deutschland). Allerdings rühmte er Kant, den Naturforscher: Kant habe in seinen Schriften zur Kosmologie das physikalische Weltbild revolutioniert, indem er das stabile Newtonsche Sonnensystem ersetzte durch einen „geschichtlichen Vorgang: in die Entstehung der Sonne und aller Planeten aus einer rotierenden Nebelmasse“. Er zog bereits die Folgerung, dass „mit dieser Entstehung ebenfalls der künftige Untergang des Sonnensystems notwendig gegeben sei“. Diese Kantsche Theorie war „der größte Fortschritt, den die Astronomie seit Kopernikus gemacht hatte“, so Engels.²² In Kants Entdeckung „lag der Springpunkt alles ferneren Fortschritts. War die Erde etwas Gewordenes, so musste ihr gegenwärtiger geologischer, geographischer, klimatischer Zustand, mussten ihre Pflanzen und Tiere ebenfalls etwas Gewordenes sein, musste sie eine Geschichte haben“.²³
Bei aller Wertschätzung sind Marx und Engels Hegels Kant-Kritik weitgehend gefolgt. In einem ihrer ersten gemeinsamen Werke, dem Konvolut von Skizzen und Entwürfen, geschrieben in den Jahren 1845 bis 1847, heute bekannt unter dem Titel „Die deutsche Ideologie“, bestritten sie die Gültigkeit von Kants Moralphilosophie. Denn in seiner „Kritik der Praktischen Vernunft“ von 1788 hätten sich die deutschen Zustände am Ende des 18. Jahrhunderts gespiegelt. Zustände, in denen es die politisch wie sozial ohnmächtigen deutschen Bürger nicht weiterbrachten bzw. bringen konnten als bis zum „guten Willen“. Die Verwirklichung dieser guten Absichten habe Kant in seiner Philosophie ins „Jenseits“ verschoben. Kants guter Wille habe „vollständig der Ohnmacht, Gedrücktheit, Misere der deutschen Bürger“, die nie fähig waren, gemeinschaftliche, nationale Interessen zu entwickeln, widergespiegelt. Die „charakteristische Form“, die der auf wirklichen Klasseninteressen einer nationalen Bourgeoisie beruhende französische Liberalismus in Deutschland annahm, „finden wir wieder bei Kant“.²⁴ Der Spott über die Ohnmacht des guten Willens stammt von Hegel. Engels kam in seiner letzten philosophischen Schrift „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“ 1888 darauf zurück.
Nun mit einer doppelten Kritik: an Kants Moralphilosophie und an Kants Erkenntnistheorie und mit einer Spitze gegen den Neukantianismus, der wissenschaftlich „ein Rückschritt“ sei. Hegel habe den Kantschen „kategorischen Imperativ“ bereits scharf und treffend kritisiert – als ohnmächtigen, guten Willen, „weil er das Unmögliche fordert, also nie zu etwas Wirklichem kommt“. Kants Moraltheorie bleibe „der wirklichen Welt gegenüber ohnmächtig“.²⁵ Kants Erkenntniskritik sei de facto durch den Fortschritt der Naturwissenschaften im 18. und 19. Jahrhundert vollständig überholt worden. Denn die wissenschaftliche Praxis, das Experiment und die industrielle Anwendung wissenschaftlichen Wissens habe die Idee eines unfassbaren „Ding an sich“ widerlegt. Wenn wir die Richtigkeit naturwissenschaftlicher Hypothesen beweisen können, indem wir „ihn selbst machen“ und ihn unseren Zwecken „dienstbar machen“, werden aus „Dingen an sich“ „Dinge für uns“ und mit dem Kantschen „Ding an sich“ ist es zu Ende.²⁶ Die Neukantianer klammern sich daran, an „das Stück Kant, das am wenigsten verdiente, aufbewahrt zu werden“.²⁷
³ Siehe O.V., Immanuel Kant, in: Die Neue Zeit, 22. Jg., I. Bd., 1903/04, Nr. 18, S. 553 – 559.
⁴ Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Reinbek bei Hamburg 1969, S. 217. Bernstein, das muss man im Blick auf seine zahlreichen falschen Freunde stets betonen, verstand sich immer, vor wie nach seiner offenen Kritik an der offiziellen Parteidoktrin als Marxist, den Stiefel des „Revisionisten“ zog er sich ebenso wenig an wie er dem Vorwurf seiner Gegner, er sei kein Sozialist mehr, irgendwelche Konzessionen machte. Bernstein, der Marx‘ Theorie (zutreffend) für unvollständig und unvollendet und (diskutabel, zum Teil auch treffend) für falsch oder unzureichend begründet hielt, wollte den Kern des Marx-Engelsschen Erbes nie preisgeben, trotz aller Kritik an den „Marxisten“ (vgl. dazu: Michael R. Krätke, Eduard Bernstein und der „Revisionismus“, in: Michael Krätke/Max Reinhard/Thilo Scholle/Stefan Stache (Hrsg), SPD-Linke zwischen Revolution, linken Bewegungen und radikalem Reformismus, Baden-Baden 2021, S. 122 – 133.
⁵ Siehe Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1964, S. 378 – 391.
⁶ Nur wenige Exzerpte und Notizen zu Hegels Werken von Marx‘ Hand sind erhalten. Das letzte kurze Exzerpt stammt aus dem Jahre 1862 und bezieht sich auf Hegels sogenannte „kleine Logik“, also die Darstellung der Logik, die Hegel in seiner „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ gab.
⁷ Karl Marx, Brief an Friedrich Engels um den 16. Januar 1858, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 29, Berlin 1967, S. 260.
⁸ Engels hat diese Marxschen Thesen zuerst 1888 veröffentlicht, in einer leicht redigierten Fassung. Siehe Karl Marx, Thesen über Feuerbach, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 3, Berlin 1969, S. 5 – 9.
⁹ Die erste Teilversion dieser Arbeit, die nur die ersten beiden Kapitel umfasste, hat Marx 1859 unter dem Titel „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“ veröffentlicht.
¹⁰ Karl Marx, Brief an Ferdinand Lassalle vom 22. Februar 1858, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 29, Berlin1967, S. 550.
¹¹ Auch wenn Engels für die späteren Entwicklungen bzw. Verwicklungen des Marxismus nicht verantwortlich zu machen ist. Da er beim Popularisieren der Marxschen Theorie durchschlagenden Erfolg hatte, wurden seine Schriften von den gnadenlosen Vereinfachern, insbesondere von den Amtswaltern der späteren Staats- und Parteidoktrin des „Marxismus-Leninismus“ skrupellos ausgebeutet und oft genug verfälscht.
¹² Siehe Karl Marx, Brief an den Vater vom 10. November 1837, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke Ergänzungsband, Erster Teil, Berlin 1968, S. 3 – 12.
¹³ Siehe Karl Marx, Notizen zur Geschichte der Kantischen Schule, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Gesamtausgabe, Bd. IV / 1, Berlin 1976, S. 277 – 288.
¹⁴ Siehe Oskar Negt, Kant und Marx. Ein Epochengespräch, Göttingen 2003.
¹⁵ Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834/35), in: Heinrich Heine, Historisch-Kritische Gesamtausgabe, Bd. 8 / 1, Hamburg 1979, S, 182. 190.
¹⁶ Karl Marx, Das philosophische Manifest der historischen Rechtsschule, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1964, S. 80.
¹⁷ Siehe Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1964, S. 216 u.ö. . Es handelt sich um ein umfangreiches Manuskript, entstanden im Sommer des Jahres 1945, das erst 1927 zum ersten Mal veröffentlicht wurde.
¹⁸ Karl Marx, Thesen über Feuerbach, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 3, Berlin 1968, S. 5.
¹⁹ Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Werke in zwölf Bänden, Bd. 3, Zürich 1977, S. 45. Diese Ausgabe ist textidentisch mit der von Wilhelm Weischedel herausgegebenen Werkausgabe in zwölf Bänden.
²⁰ Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., S. 104.
²¹ Friedrich Engels, Vorwort zur ersten Auflage [in deutscher Sprache (18820], in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 19, Berlin 1969, S. 188.
²² Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 20, Berlin 1968, S. 22, 52. Engels bezieht sich auf Kants „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels“ von 1755.
²³ Friedrich Engels, Dialektik der Natur, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 20, Berlin 1968, S. 316.
²⁴ Karl Marx / Friedrich Engels, Die Deutsche Ideologie, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 4, Berlin 1969, S. 177, 178.
²⁵ Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 21, Berlin 1969, S. 281, 289.
²⁶ Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach, ebd., S. 276.
²⁷ Friedrich Engels, Dialektik der Natur, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 20, Berlin 1968, S. 332.