Heft261 – 04/2024
600 Milliarden Euro für die Zukunft
#gespraeche #spw

Foto: © Peter Himsel
Prof. Dr. Sebastian Dullien, Wissenschaftlicher Direktor, Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung
Interview mit Sebastian Dullien
spw: Das IMK hat vor fünf Jahren schon einmal eine Studie zu den öffentlichen Investitionsbedarfen in Deutschland veröffentlicht. Was hat sich seither verändert?
Sebastian Dullien: Das IMK hat 2019 gemeinsam mit dem Institut der deutschen Wirtschaft eine Studie zu diesem Thema veröffentlicht. Damals haben wir mit unserer Studie, die eine sehr starke Resonanz fand, den Versuch unternommen, die aufgelaufenen Investitionsrückstände zu erfassen. Wir sind seinerzeit für einen Zeitraum von zehn Jahren auf eine Summe von rund 460 Milliarden Euro gekommen. Und diese Berechnung haben wir jetzt wiederholt, weil sich die Welt seit 2019 weitergedreht hat und sich die Dinge z.B. durch den Ukrainekrieg und die zwischenzeitliche Inflation verändert haben. Und dabei hat sich gezeigt, dass die Bedarfe und Erfordernisse sich nochmal erhöht haben. Wir kommen heute auf einen öffentlichen Investitionsbedarf von 600 Milliarden Euro.
spw: Worum geht es denn genau bei den öffentlichen Investitionsbedarfen?
S.D.: Wir haben definiert, was der Staat für Investitionen zusätzlich über die aktuelle mittelfristige Finanzplanung hinaus ausgeben muss. Es geht einerseits um die Infrastrukturen, die wieder auf Vordermann zu bringen sind, also die zerfallenen Brücken, die maroden Schienensysteme. Es geht aber auch um die energetische Modernisierung von Gebäuden, um die Klimaziele zu erreichen oder um die Schaffung von Kita- und Ganztagsschulplätzen, weil sich im Bildungsbereich in dieser Hinsicht erhebliche Bedarfe aufgestaut haben.
spw: Heißt das, dass bei Fortschreibung der gegenwärtigen Haushaltsplanungen schon jetzt klar ist, dass für die nächsten zehn Jahre im Grunde zu wenig Geld zur Verfügung steht?
S.D.: Ja, denn man weiß ja, was heute die öffentliche Hand investiert bzw. an öffentlichen Investitionen plant. Es gibt für Bund und Länder eine mittelfristige Finanzplanung, aus der zu entnehmen ist, was für die nähere Zukunft an Investitionsmitteln zur Verfügung gestellt werden soll. Wenn man davon ausgeht, dass diese Planung so fortgeschrieben wird, dann sieht man, dass die Mittel bei weitem nicht ausreichen werden. Auf diese Lücke bezieht sich unsere Berechnung.
spw: Was ist denn das wichtigste Investitionsfeld aus deiner Sicht?
S.D.: Ich denke nicht, dass es nur ein wichtiges Feld gibt. Es handelt sich um verschiedene Dimensionen der Transformation. Man kann nicht sagen, dass gegenwärtig die energetische Gebäudesanierung wichtiger ist als der ÖPNV. Wir brauchen beides. Und diese Investitionsprojekte kann man auch nicht gegen den Ausbau von Ganztagsschulen oder den öffentlichen Wohnungsbau ausspielen. In unserer Studie haben wir den Versuch unternommen, vor allem die Investitionsbedarfe zu erfassen, die für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands unabdingbar sind, wobei wir eher eine vorsichtige Schätzung vorgenommen haben.
spw: Welche Felder sind es denn, wo wir in besonderer Weise Investitionsbedarfe haben?
S.D.: Mehr als ein Drittel der Investitionsbedarfe gehört zur kommunalen Infrastruktur, wobei der Löwenanteil in der Beseitigung des aufgelaufenen Investitionsstaus besteht. Dabei wurde der Anteil des ÖPNV herausgerechnet, um Doppelzählungen zu vermeiden. So ergibt sich ein kommunaler Investitionsrückstand von 177,2 Milliarden Euro, wobei der größte Teil auf Schulen und kommunale Straßen entfällt. Für die Investitionen in die Infrastruktur des ÖPNV werden 28,5 Milliarden Euro angesetzt. Zusätzlich zum Investitionsrückstand bei der Schulinfrastruktur sind im Bildungsbereich noch der Ausbau der Ganztagsschulen und die Investitionen in die Hochschulen zu berücksichtigen. Für die Erweiterung der Ganztagsschulen wurde ein Investitionsbedarf von 6,7 Milliarden Euro angesetzt. Angesichts der durch die Fluchtmigration aus der Ukraine deutlich gestiegenen Schülerzahlen scheint diese Bedarfsannahme plausibel. Wir beziffern den Investitionsbedarf im Hochschulbereich ohne energetische Gebäudesanierung in einem Zehnjahreszeitraum auf 34,7 Milliarden Euro. Im öffentlich geförderten Wohnungsbau beläuft sich der zusätzliche Finanzbedarf vor allem aufgrund der stark gestiegenen Baupreise auf 36,8 Milliarden Euro. Für den Ausbau des Schienenverkehrs gehen wir von einem Investitionsbedarf von rd. 60 Milliarden Euro aus. Für die Bundesfernstraßen beläuft sich der prognostizierte Bedarf für Nachhol- und geplante Ausbaumaßnahmen auf 39 Milliarden Euro. Den Investitionsbedarf für den Klimaschutz sehen wir insgesamt bei 200 Milliarden Euro. Hinzu kommen noch Investitionen für die Klimaanpassung in Höhe von 13,2 Milliarden Euro. Zusammengerechnet ergeben die von uns ermittelten zusätzlichen Finanzierungsbedarfe einen Betrag in Höhe von rd. 600 Milliarden Euro über einen Zeitraum von zehn Jahren.
spw: Das ist sicherlich eine enorme Summe, über deren Finanzierung wir gleich reden werden. Kritiker würden jetzt einwenden, dass selbst dann, wenn der Betrag von jährlich 60 Milliarden Euro aufzubringen wäre, es aus vielerlei Gründen, wie zum Beispiel unzureichende Planungskapazitäten, gar nicht möglich wäre, diese Investitionsmittel umzusetzen.
S.D.: Richtig ist, dass es in der Vergangenheit immer wieder Situationen gegeben hat, in denen das zur Verfügung stehende Geld zum Teil nicht abgerufen wurde. Das lag zum einen daran, dass Investitionsmittel oft nach Kassenlage in den Haushaltsplänen bereitgestellt wurden, was zu einer sehr kurzfristigen Verfügbarkeit der Mittel geführt hat. Durch diese ad-hoc-Politik war dann auch nicht mehr die Planbarkeit von Investitionen gegeben mit der Folge, dass in den Kommunen kein Planungspersonal zur Verfügung stand oder die Baufirmen sich nicht rechtzeitig darauf einstellen konnten, die zur Verfügung stehenden Investitionsmittel zu verbauen. Aus diesem Grund sind bisweilen die bereitgestellten Gelder nicht abgerufen worden. Die Antwort darauf kann nur sein, Planungssicherheit zu schaffen. Das heißt, dass man für mehrere Jahre – und wir haben in unserer Studie einen Horizont von zehn Jahren ins Spiel gebracht – die Investitionen und die damit verbundenen Planungs- und Baukapazitäten planen sollte. Wenn man diese Planungssicherheit schafft, können die Kommunen und die Unternehmen auch das zusätzliche Personal einstellen, um die Bauinvestitionen zu tätigen. Zum anderen liegt eine Ursache in langen Genehmigungsverfahren. Hier gilt es, die Verfahren zu verschlanken. Wir sehen jetzt, dass die Übertragungsnetze wesentlich schneller genehmigt und gebaut werden als es lange Zeit üblich war. Heute gibt es ein Beschleunigungsgesetz mit neuen Regeln. Es gibt keinen Grund, warum wir nicht auch bei anderen Projekten entsprechend verfahren sollten. Die Finanzierung, die wir vorschlagen, ist nicht eine hinreichende Bedingung dafür, dass alles besser und schneller läuft. Aber es ist eine notwendige Bedingung. Natürlich gibt es noch andere Hindernisse, die aus dem Weg zu räumen sind. Aber ohne Geld funktioniert das alles nicht. Von daher haben wir zunächst einmal die Bereitstellung der erforderlichen Investitionsmittel in den Vordergrund gestellt.
spw: Die 600 Milliarden Euro sind auf den ersten Blick eine abstrakte Zahl. Sind denn die 60 Milliarden Euro pro Jahr eine utopische Summe oder ist das noch überschaubar?
S.D.: Diese Summe ist vor allem dann überschaubar, wenn man sie zusätzlich als Kredit aufnimmt, also zusätzlich zu den 0,35 Prozent, die man sowieso im Rahmen der Schuldenbremse aufnehmen kann. Wir hätten dann übrigens trotzdem eine leicht fallende Schuldenquote.
spw: Die Investitionssumme ist also gar kein Problem?
S.D.: Das ist schon ein Problem, weil wir die Schuldenbremse haben, die ja besagt, dass – egal ob die Schuldenquote unter 60 Prozent liegt oder irgendwann auch unter 40 Prozent fällt – lediglich eine Nettokreditaufnahme von höchstens 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erlaubt ist. Und von daher ist die aktuelle Rechtslage leider so, dass wir den Kredit für diese notwendigen Investitionen jetzt nicht so einfach aufnehmen können. Wir brauchen daher eine Reform der Schuldenbremse. Es handelt sich ja auch um Zukunftsinvestitionen, also langlebige Infrastrukturen, von denen auch künftige Generationen profitieren. Daher halten wir eine Kreditfinanzierung auch unter dem Gesichtspunkt der Generationengerechtigkeit für durchaus vertretbar.
spw: Das IW gilt ja arbeitgebernah, das IMK als gewerkschaftsnah. Wie ist es möglich, dass in der Frage der Investitionsbedarfe und ihrer Finanzierung dennoch eine gemeinsame Position entwickelt werden kann?
S.D.: Ich glaube, die Probleme, die wir mit der Unterinvestition in unsere Infrastruktur haben, sind so eklatant und so offensichtlich, dass es keinen großen Unterschied macht, ob man die Perspektive der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen oder der Arbeitgeber andererseits einnimmt. Mit den notwendigen Investitionen sind Standortqualitäten verbunden, von denen abhängt, ob in Deutschland investiert wird. Davon hängt auch ab, wie produktiv die Menschen arbeiten können. Und am Ende hängt unser Wohlstand und auch die Lohnentwicklung davon ab. Und von daher finde ich es relativ offensichtlich, dass die beiden Institute dann mit ihren jeweiligen Methoden zu sehr ähnlichen Ergebnissen gekommen sind und wir jetzt auch in der Lage sind gemeinsam festzustellen, was die
spw: Die Notwendigkeit, zusätzliches Geld in die Hand zu nehmen, um die gesellschaftlich erforderlichen Investitionen zu finanzieren, wird ja heute in Deutschland in der Öffentlichkeit weitgehend anerkannt. Kann man sagen, dass die Politik in eine ganz ande
S.D.: Die Politik ist zumindest bis zum Ampel-Aus zuletzt in eine andere Richtung gelaufen. Man hatte sich scheinbar damit abgefunden, dass es kurzfristig keine Reform der Schuldenbremse geben würde und deshalb auf eine Investitionspolitik eingeschränkt, die für Deutschland eher schlecht war. Am Ende ist aber ja auch an diesem Konflikt die AmpelRegierung zerbrochen: SPD und Grüne haben nicht mehr akzeptiert, dass sich Finanzminister Lindner auf Kosten des Landes und der künftigen Generationen mit seiner radikalen Interpretation der Schuldenbremse profilierte.
Bei den Unternehmen bin ich mir nicht so ganz sicher, was dort jetzt eigentlich Mehrheits- oder Minderheitsmeinung ist. Ich sehe da einige Unternehmensvertreter, die sehr ideologisch argumentieren und andere, die pragmatisch und analytisch an diese Fragen herangehen und die dann die Dinge sehr ähnlich sehen, wie wir das tun.
spw: Siehst du auf kurze Sicht eine Chance, dass die Schuldenbremse in der kommenden Legislaturperiode fällt?
S.D.: Ich bin mir nicht sicher. Das hängt ganz vom Ausgang der vorgezogenen Neuwahlen und der sich dann ergebenen Regierungskoalition ab. Aber auch die Wirtschaftsentwicklung ist eine weitere Determinante. Es wäre auch denkbar, dass sich die Konjunktur etwas erholt und man erst einmal versucht, sich weiter durchzuwursteln. Man muss sich nur klar machen, dass diese Durchwurstelei auf Kosten des künftigen Wohlstands geht, weil öffentliche und private Investitionsentscheidungen gegen den Standort Deutschland fallen. Es wäre tragisch, wenn wir durch die Ideologie der Schuldenbremse dann zunehmend an Wohlstand verlieren.