Heft263 – 02/2025
50 Jahre „Memoranden“ der „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik
#gespraeche #spw
Interview in der „Frankfurter Rundschau vom 6. 5. 2025
Interview mit Rudolf Hickel
Stark bearbeitete Fassung in der FR: https://www.fr.de/wirtschaft/der-neoliberalismus-ist-nicht-tot-93715843.html
Vor fünf Jahrzehnten, 1975 gründete sich die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik. Die Initiative – getragen von gewerkschaftsnahen, keynesianisch geprägten Ökonom:innen – veröffentlicht seither jährlich ihr „Memorandum“: ein wirtschaftspolitisches Gegengutachten mit dem Anspruch, soziale Gerechtigkeit, Vollbeschäftigung und ökologische Nachhaltigkeit ins Zentrum zu rücken. Im Folgenden drucken wir aus diesem Anlass ein lesenswertes Interview mit Gründungsmitglied Rudolf Hickel aus der Frankfurter Rundschau in gekürzter Fassung.
spw: Die Memorandum-Gruppe gilt als links – zurecht? Was ist „links“ für Sie?
Rudolf Hickel: Wenn links ist, sich einzusetzen für die aktive Gestaltung der Gesellschaft mit den Zielen, soziale Gerechtigkeit auch durch Chancengleichheit, Gleichberechtigung statt Diskriminierung, Klimarettung und internationale Solidarität, dann ist die Memo-Gruppe links. Nach unserem Konzept gehört eine zivilisierte Wirtschaft gegen Missbrauch durch Kapitalmacht dazu. Übrigens ist in diesem Sinne das Grundgesetz auch links. Es geht am Ende um einen „emanzipatorischen Liberalismus“. Im Mittelpunkt steht die Schaffung der Voraussetzungen für die individuelle Entfaltung. Dazu braucht es jedoch den aktiv ordnenden und intervenierenden Staat sowie starke Gewerkschaften gegen die Gefahr profitwirtschaftlicher Ausbeutung.
spw: Konjunktur- und Wirtschaftsberatung gibt es massenhaft. Was unterscheidet die Memorandum-Gruppe bis heute? Nur die wirtschaftspolitischen Rezepte? Oder auch die Ziele?
R.H.: Hier hat sich ein Wandel vollzogen. Als Jörg Huffschmid und Herbert Schui mit mir die „Memo-Gruppe“1975 gegründet haben, schwenkte die Wirtschaftswissenschaft und Politik auf die Ideologie ein, die 1975 aufflammende Wirtschaftskrise und steigende Arbeitslosigkeit müssten durch die Entfesselung der Marktkräfte bekämpft werden. Das war die Geburtsstunde des Neoliberalismus. 1975 propagierte der „Rat der fünf Weisen“ unter der nur rhetorisch gemeinten Frage „Krise der Marktwirtschaft?“ ein Totalbekenntnis zur Austreibung der Krise mit mehr an unreguliertem Markt. Gewerkschaften und der Interventionsstaat galten als die „Schurken“. Gegen diesen sich abzeichnenden Marktfundamentalismus richtete sich unsere Arbeitsgruppe mit ihren Alternativen. Seit einigen Jahren hat sich jedoch die Lage verändert. Im „Rat der fünf Weisen“ sorgten Peter Bofinger und derzeit Axel Truger für hochwertige Kritik an der der beratenden Mainstream-Economics. Zum seit Jahrzehnte vielfach kritisch argumentierenden „Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung“ kam das analytisch fundierte und empirisch arbeitende „Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung“ der gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Stiftung hinzu. Diese Institutsgründung hatte die Memo-Gruppe unterstützt. Dort stehen heute Konzepte für „gute Arbeit“ und Klimarettung auf der Basis empirischer Studien im Mittelpunkt.
spw: Gibt es Positionen, die sie aufgegeben haben? Wo haben Sie sich geirrt? Oder anders: Was haben Sie in 50 Jahren Memorandum gelernt?
R.H.: Ja, wir haben uns auch geirrt und daraus gelernt. Zum Irrtum gehört die Forderung nach der Verstaatlichung von Unternehmenskomplexen. Das Beispiel ist die Stahlindustrie. Staatliches Eigentum garantiert noch lange nicht verantwortungs- volles Unternehmenshandeln. Jedenfalls beweist heute die deutsche Stahlindustrie, wie zusammen mit dem finanziell helfenden Staat die nach Schumpeter die „schöpferische Zerstörung“ in Richtung GreenSteel gemanagt wird. Unsere Antwort lautet heute: Unternehmen brauchen von innen heraus eine effektive demokratische Mitbestimmung. Von außen hinzukommen muss die Sicherung des grundgesetzlich garantierten Tarifvertragssystems mit starken Gewerkschaften und der die Rahmenbedingungen sichernde und finanziell fördernde Staat
spw: „Oftmals war die „Memo-Gruppe“ ein einsamer Rufer, der nicht ernst genommen wurde.“
R.H.: Es gibt zwei Themen, bei denen wir anfangs nicht ernst genommen wurden, jedoch später Recht bekommen haben. Das war die bereits in der „Föderalismuskommission II“ 2007 vorgetragene Kritik an der Schuldenbremse. Wir haben damals vor allem mit Axel Troost im Deutschen Bundestag in den Beratungsrunden in Berlin die sich abzeichnende Demontage des öffentlichen Kapitalstocks prognostiziert. Kritisiert haben wir Ideologisierung der Schuldenlast als Erbe für nachfolgende Generationen. Denn Staatsschulden sind das einzige Finanzierungsinstrument, durch das die von heute ausgelösten Investitionen profitierende Generationen daran anteilig finanziell beteiligt werden können. Die Aussage des Bundesverfassungsgerichts vom April 2021, wer heute selbst machbare Innovationen gegen den Klimawandel unterlasse, der schränke die Freiheitsrechte durch vielfache Naturkatastrophen in der Zukunft ein. Jetzt gibt es eine erste Reform der Schuldenbremse. Das ist gut so. Es war aber weniger der Erfolg der wissenschaftlichen Kritik an der Schuldenbremse als die sich zusammenbrauende reale Gewalt der Infrastrukturkrise.
Ein weiteres Beispiel: Anfangs wurden wir auch mit unserem Engagement für Mindestlöhne nicht ernst genommen. Das galt als ein brutaler Eingriff in die Autonomie der Wirtschaft. Dabei nahm damals die Zahl derer, die von der Erwerbsarbeit nicht mehr leben konnten, mit der Agenda 2010 deutlich zu. Auch Teile der Gewerkschaften hatten anfangs Sorge, ihren Einfluss auf die unteren Lohngruppen zu verlieren. Wir haben die vielen Studien aus dem Ausland verarbeitet (Metastudie) und die Notwendigkeit der Mindestlöhne gegen Ausbeutung im durch Tarifverträge nicht mehr erfassten Sumpf prekärer Arbeit begründet. Heute gibt es eine breite Zustimmung für Mindestlöhne im Kampf gegen prekarisierte Lohnverhältnisse. Diese Bestätigung unserer Arbeit ist auch ein kleiner Beitrag zum Erfolg für die zuvor prekär Beschäftigten.
spw: Als die Memorandum-Gruppe startete, war der Zeitgeist keynesianistisch. In den neunziger Jahren kam dann auch in Deutschland der Neoliberalismus an und brachte Privatisierung, Deregulierung, Liberalisierung, Rückbau des Staates und eine allgemeine Parteinahme für die „Investoren“: Kritik an Sozialstaat und Gewerkschaften, allgegenwärtige Forderung nach „Wettbewerbsfähigkeit“ des Standortes. Heute dagegen ist das Pendel wieder etwas zurückgeschwungen: höhere Staatsschulden, öffentliche Investitionen, Industriepolitik, Handelsregulierung sind en vogue oder zumindest teilweise rehabilitiert.
R.H.: Rehabilitiert wäre wohl zu viel der Ehre. Aber wir freuen uns im 50sten Jahr, dass unsere Aufklärungsarbeit zum Stimmungswechsel beigetragen hat. Allerdings ist es die Wucht der Mehrfachkrise, die die Illusion der ökonomischen Wohlstandsschaffung durch die Entfesselung der Marktkräfte endgültig erschüttert hat. Die großen sozial-ökologischen Transformationsprojekte sind nur in einer neuen Kooperation zwischen den dynamisch-innovationsbereiten Unternehmen und dem finanzstarken Staat möglich. Robert Habeck hat durchaus in diese Richtung der Entwicklungsdynamik von J.A. Schumpeter erfolgreich gehandelt. Es lohnt sich für die neue Bundesregierung daran anzuschließen.
spw: Woher kommen solche Umschwünge des Paradigmas? Was bestimmt den Zeitgeist? Die besseren Argumente? Oder anders: War der Neoliberalismus so erfolgreich, weil er so einleuchtend ist?
R.H.: Mit dem beginnenden Ausstieg aus der Schuldenbremse vollzieht sich (leider) kein grundlegender Wechsel vom neoliberalen zum neuen Kooperationsmodell zwischen der demokratisierten Wirtschaft und staatlichem Handeln. Die Ideologie der entfesselten Marktkräfte als Krisenlöser bleibt immer virulent. Allerdings zwingt die real einstürzende Infrastruktur zur Kurkorrektur. Es sind gerade diese Katastrophen, die die für die Paradigmenbildung wichtige öffentliche Meinung beeinflussen. Hinzu kommen auch die allerdings viel zu wenigen innovationsklugen Unternehmen, die auf diese Infrastruktur, die über Märkte nicht herstellbar ist, bestehen. Diese Widersprüchlichkeit zwischen Praxis und Ideologie zeigt sich jetzt schon bei Friedrich Merz. Er ist immer noch zutiefst von der Schuldenbremse überzeugt. Auch sieht er nur die Last künftiger Generationen durch den Kapitaldienst. Die intertemporale Wirkung heute ausgelöster Wohlstandseffekte, aus denen künftig die Zinsen finanziert werden, ist dem Kurzfrist-Marktoptimisten zuwider. Aber Merz ist Pragmatiker genug zu erkennen, dass ohne Kreditfinanzierung der Standort Deutschland nicht zu retten ist. Der Trick mit der gerade noch erreichbaren 2/3- Zustimmung des alten Parlaments wurde zum fiskalischen Befreiungsschlag für das neue Kabinett. Merz bleibt im Herzen dem marktoptimistischen Neoliberalismus treu. Durch die Krise erzwungene Abweichungen in Richtung Staatsinterventionismus gelten als Ausnahmen, werden aber immer wieder möglich sein.
spw: Zählen in der Frage, welche Position hegemonial wird, überhaupt Fragen wie „wahr und falsch“, also ob ein Argument zutrifft oder nicht? Oder anders gefragt: Wird die Welt in ökonomischen Fragen tendenziell immer klüger, gibt es eine aufsteigende Wissens-Linie? Oder nur den ewigen Streit?
R.H.: Dazu lässt sich das wie bereits angesprochene Beispiel „März und die Schuldenbremse“ heranziehen. Es sind letztlich die hegemonialen Interessen an der Lösung übergreifender Krisen, die den pragmatisch-opportunistischen Zeitgeist und damit auch realisierte Politik prägen. Umso wichtiger ist es, auf den Zeitgeist Einfluss zu nehmen. Und hier kommt die Memo-Gruppe mit ihrem bescheidenen Beitrag zur ökonomischen Aufklärung zum Einsatz. Dass nach anfänglich großer Unsicherheit die Gewerkschaften die Führungsrolle bei der Kritik der Schuldenbremse als Investitionsbremse übernommen hatten, dadurch ist durchaus der Zeitgeist bewegt worden.
spw: Ist der Neoliberalismus tot? Oder zumindest in der Krise?
R.H.: Der Neoliberalismus ist so lange nicht tot so lange die Kapitalmacht auf den Märkten dominiert. Deshalb dominiert das Interesse an hohen Renditen und Dividenden die Wirtschaft mit Einflussnahme auf die Politik. Allerdings zwingen die Krisen zu abweichender Politik. Das gilt auch für den künftigen Sozialstaat. Der grundsätzlich geforderte Neoliberalismus mit dem Ziel, diesen zu demontieren, muss durch politisch wirksame Gegenkräfte ausgebremst werden. Schließlich gibt es weder historisch noch international den Kapitalismus. Die jeweilige Ausprägung hängt auch von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen ab. Dass sich die neue Bundesregierung auf die Soziale Marktwirtschaft mit einer starken Sozialsäule zum Ausgleich systemischer Risiken für die abhängig Beschäftigten sowie die ökologische Transformation entscheidet, ist jedenfalls nicht garantiert. Deshalb ist politisch breite Kritik an der drohenden Sozialstaat-Schmelze und dem Rückzug aus der Klimarettung erforderlich. Dazu braucht es auch der Aktivitäten der Zivilgesellschaft. Und die ethisch verantwortliche Wirtschaftswissenschaft sollt hierzu Wege machbarer Alternativen aufzeigen. Das ist eine Aufgabe für kommende Memoranden.
spw: Eine klassische linke Position ist die Forderung nach Um- oder Rückverteilung. Dabei geht es meist um die Neuverteilung von Erträgen (z.B. über Kapitalsteuern oder Reichensteuern). In den Memoranden geht es dagegen regelmäßig um die Neu-Verteilung des Eigentums selbst, so auch im jüngsten Memorandum.
R.H.: Bei der Herausforderung Umverteilung gilt es zu unterscheiden. Auf der oberen Ebene geht es um die Verteilung der Erträge aus der Wertschöpfung. Dazu dient vor allem die Lohnpolitik auf der Basis starker Tarifverträge mit Bindungswirkung. Hinzu kommt die Umverteilung über das Steuersystem. Weil jedoch die Einkommens- starken und Vermögenden derzeit zu wenig zur Finanzierung des Staates, von dem sie auch profitieren, beitragen, stehen eine Vermögensteuer und eine Reform der Einkommensteuer nicht nur durch die deutliche Erhöhung des Spitzensteuersatzes auf der Agenda. Jedoch bedarf es auch der Reform auf der unteren Ebene, der Basis zur Schaffung von Verteilungsgerechtigkeit. Hier steht die Demokratisierung der Produktionsverhältnisse im Mittelpunkt: Ziel der Memo-Gruppe ist und bleibt es, die antidemokratische, auch wettbewerbsfeindliche Kapitalmacht abzubauen. Denn die vermachtete Marktwirtschaft verhindert den fairen Wettbewerb